Wer singt, hat mehr vom Leben: Ein Streifzug durch die Chorszene in Hamburg, in der es für jeden Musikgeschmack das passende Ensemble gibt

Hamburg. Es ist der erste Montag nach den Herbstferien. Im Studiosaal der Jugendmusikschule am Mittelweg sitzen 20 Mädchen zwischen elf und 13 Jahren auf der Stuhlkante und proben ein wehmütiges litauisches Lied. "Kai u{zcaron} lango gruodas ar sarma". Puh! Ganz schön schwer, so einen fremden Text zu lernen und trotzdem jede Note genau zu treffen. "Ihr müsst aufpassen, dass es nicht zu tief wird!", mahnt Chorleiterin Gesa Werhahn. In sanftem Ton und mit weichen, aber klaren Gesten steuert sie ihre Sängerinnen vom Jugendchor des Mädchenchors Hamburg in die richtige Richtung.

Am Ende der Stimmprobe gibt's noch ein besonderes Highlight. "Jetzt wiederholen wir einmal das 'Hallelujah'", sagt Gesa Werhahn - und löst damit einen kurzen Jubelsturm aus. Leonard Cohens Ballade lieben die Mädchen. "Now I've heard there was a secret chord": Schon die erste Zeile singen sie mit einer selbstvergessenen Hingabe, die tief berührt. Während die Herbstsonne den Saal in goldenes Licht taucht, ist jener Zauber zu spüren, den nur Chormusik entfachen kann: Wenn verschiedene Einzelstimmen zu einem Klang verschmelzen, wenn ganz unterschiedliche Persönlichkeiten in einer (Seelen-)Schwingung zusammenfinden, kann die Zeit stillstehen. "Bei so einem Lied werde ich ganz ruhig, dann geht es mir immer gut", sagt die elfjährige Dunja nachher. In solchen Momenten scheint ein Engel durch den Raum zu gehen.

Und das passiert nicht nur in einer privilegierten Situation wie beim Mädchenchor Hamburg, wo einige der begabtesten Sängerinnen der Stadt zweimal pro Woche proben. Nein, solche magischen Momente sind auch weit weg von Harvestehude zu erleben. Zum Beispiel im Goethe-Gymnasium in Lurup: Dort hat die Musiklehrerin Astrid Demattia seit den 1980er-Jahren einen Chor aufgebaut, dessen Aufführungen selbst geschriebener Musicals zu den Höhepunkten im Kulturleben des Stadtteils gehören. Neben der künstlerischen Qualität gehe es ihr natürlich auch um pädagogische Ziele: "Beim Chorsingen lernt man auch, sich in eine Gruppe einzufügen und mit anderen auf ein Ziel hin zu arbeiten, man erfährt Ausgleich zum schulischen und sonstigen Leistungsdruck und kann Aggressionen und Stress abbauen."

Dass die wöchentliche Probe eine reinigende Wirkung haben kann, dürfte so ziemlich jeder Hobbychorsänger aus eigener Erfahrung kennen. Dem Chorleiter geht es dabei ganz genauso, wie Christoph Schoener vom Hamburger Michel bestätigt: "Meistens kommt man als anderer Mensch aus einer Probe raus. Das Singen ist nicht nur die beste Atemschule, die man sich denken kann, sondern eine ganzheitliche Erfahrung für Körper und Geist."

Schoeners Chor St. Michaelis gehört zu den insgesamt 457 Ensembles, die Landeskirchenmusikdirektor Hans-Jürgen Wulf in seiner Statistik erfasst. Über 11 000 Sängerinnen und Sänger sind allein in den evangelischen Kirchenchören des Sprengels Hamburg aktiv. "Dabei erleben wir einen neuen Aufbruch in der Kinderchorarbeit", sagt Wulf. "Viele Gemeinden versuchen, so früh wie möglich die Begeisterung fürs Singen zu wecken. Andererseits gibt es auch bei Seniorenchören Zuwachs. Chorleiter wie Chorsänger erkennen zunehmend den Wert dieser Arbeit und reagieren mit ganz unterschiedlichen Angeboten auf die sich wandelnde Altersstruktur unserer Gesellschaft."

Die Kirchen- und Schulchöre bilden ein wichtiges Fundament der Hamburger Chorlandschaft, die nicht nur demografisch breit gefächert ist. Sie reicht von der Poppenbütteler Liedertafel Amicitia bis zu den Allermöher Deichspatzen, vom Frauenchor der Fleischerinnung bis zum schwulen Männerchor Schola Cantorosa, und von den mystischen Klängen des Kammerchors der Russischen Orthodoxen Kirche Hamburg über die knackigen Grooves der Winterhuder Gospolitans bis zu den Popsounds von Cantaloop.

Ein hanseatisches Unikat ist der Hamburger Lotsenchor. Einmal pro Woche treffen sich die überwiegend bereits pensionierten Lotsen und ein paar Kapitäne im Alt-Osdorfer Heidbarghof. Noten lesen können nur die wenigsten - die Mappe mit119 Stücken ist bloß eine Gedächtnisstütze für den Text, wie der 75-jährige Dieter Wulf erklärt. "Melodien lernen wir, indem es uns jemand vorsingt." Genauso, wie er es selbst in seinen frühen Berufsjahren noch erlebt hat. "Als ich anfing, zur See zu fahren, gab es noch nicht einmal Radio an Bord. Deshalb haben wir zum Zeitvertreib viel gesungen."

Diese Tradition lassen er und seine Kollegen wiederaufleben - aber, bitte schön, ohne romantischen Seefahrerkitsch. Beim Lotsenchor wird nämlich nicht gemütlich geschunkelt, sondern kernig gesungen. Shantys sind keine Schnulzen, die von weißen Möwen schmachten. Darauf legt Wulf großen Wert. "Shantys hatten im 19. Jahrhundert die Funktion, schwere und monotone Arbeiten zu erleichtern. Zum Beispiel, wenn die Ankerkette wieder an Bord gehievt werden musste. Das war unglaublich hart und anstrengend." Zu einer solchen Tätigkeit passen eher langsame Stücke wie das bekannte "Shenandoah". Für das Probenende steht selbstverständlich schon eine Kiste Bier auf der Theke des Heidbarghofs. Schließlich gehört der gemeinsame Ausklang untrennbar zum Probenritual - und das nicht nur bei gestandenen Seeleuten.

Chorsingen hat eine starke soziale Komponente und kann zwischen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft große Vertrautheit und mitunter auch eine intime Nähe erzeugen. Die daraus entstehende Nestwärme wird für manchen zum Familienersatz und ist eine wunderbare Brutstätte für emotionale Verwicklungen, gerade in gemischten Chören. Davon zeugen unzählige in- oder halboffizielle Liebesbeziehungen, die gerne während besonders schöner Momente auf besonders schönen Reisen entstehen, aber auch lebenslange Freundschaften und so manche Ehe.

Beim gemeinsamen Singen muss man sich öffnen, einen Teil von sich preisgeben. Daraus erwächst eine hohe Erlebnis-Intensität. Das gilt sowohl für Laien, die sich nur privat treffen und gar nicht auftreten, als auch für die großen Oratorienchöre wie den Symphonischen Chor, den Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor oder für semiprofessionelle Kammerchöre, die sich durch Wettbewerbserfolge und CD-Aufnahmen überregionales Renommee erarbeiteten. Dazu gehören auch das Ensemble vocal, der Harvestehuder Kammerchor und der Kammerchor consonare.

Bei den beiden in Hamburg ansässigen Berufschören von Staatsoper und NDR haben die Mitglieder naturgemäß ein etwas anderes Verhältnis zum Singen; es bedeutet für sie neben der Freude eben auch Arbeit und Alltag. Doch auch wer täglich probt und konzertiert, kann sich das Gespür für den Zauber von Chormusik bewahren, wie die Altistin Gesine Grube vom NDR-Chor bestätigt. "Gemeinsames Singen führt zu musikalischen Erlebnissen, die allein nicht zu erreichen sind. Bei manchen sauberen, schwingenden Akkorden, auch bei Dissonanzen, bekomme ich noch immer eine Gänsehaut. Dass ich das Chorsingen zum Beruf machen konnte, ist für mich wie ein Sechser im Lotto."