Blutleer? Von wegen. Die Ausgrabung von Heinrich Marschners “Vampyr“ im Allee-Theater bietet den Zuschauern Unterhaltung mit Tiefgang.

Hamburg. Es hat Zeiten gegeben, da waren selbst Vampire noch unschuldig. Das Merchandising war noch nicht erfunden, Graf Draculas Nachfahren lagen nicht in Dutzenden echten oder nachgemachten "Bis(s)"-Varianten auf den Grabbeltischen, und die Begegnung mit ihnen löste keinen wohlig-gruselnden Griff in die Chipstüte aus, sondern redliche Erschütterung.

Heinrich Marschners Oper "Der Vampyr" aus dem Jahre 1828 hat lange vor Sigmund Freud und seiner Psychoanalyse ergreifende Töne für den Blick in die Abgründe der menschlichen Seele gefunden. Andreas Franz hat das Stück jetzt auf die winzige Bühne der Hamburger Kammeroper gebracht und sich seinem Thema mit seinem so erfrischend unverstellten Blick genähert, als lasteten auf ihm nicht Jahrzehnte Rezeptions- und Vermarktungsgeschichte. Da war Platz für wehende Vorhänge und bleiche Gesichter, doch kein Gespenst hüpfte im Bettlaken über die Bühne; nichts geriet banal oder gar unfreiwillig komisch an diesem Drama um den Vampir Lord Ruthven, der noch ein Jahr als von seiner Blutgier befreiter Mensch unter Menschen leben will. Der Hexenmeister gewährt es ihm - um den Preis von drei Bräuten, zum Opfer darzubringen vor Ablauf der nächsten Mitternachtsstunde. Klar, dass das kein gutes Ende nehmen kann.

+++ Blutsauger sucht Braut +++

+++ Kammeroper setzt in dieser Saison auf Hochstapler und Vampire +++

Es ist immer wieder erstaunlich, was das kleine Haus an der Max-Brauer-Allee mit Bordmitteln an Gehaltvollem zustande bringt. Der Bühnenbildnerin Kathrin Kegler reichen ein Spiegel und ein schwarz bezogener Quader, um einen Friedhof anzudeuten. Dann wieder arbeitet ihr Bühnenbild mit Schattenrissen und einem angedeuteten Kaleidoskop, das sich wie eine Schlinge um Ruthvens letztes Opfer zusammenzuziehen scheint. Hausherrin Barbara Hass hat die zahlreichen Dialogstellen stark gerafft und Wilhelm August Wohlbrücks nicht besonders geschmeidiges Libretto in klares, heutiges Deutsch gefasst. So textverständlich wie die Sänger artikulieren, kann sich das Drama mühelos entfalten - und die Regie gibt ihnen Raum für all das, was Marschner in seine stilistisch durchaus heterogene Partitur gepackt hat: von der Düsternis eines Don Giovanni über die Geisteratmosphäre eines "Freischütz" bis hin zu slapstickartigen Szenen.

Da bleiben der adlige, aber leider verarmte Brautvater, Hausmädchen und der chancenlose, weil leider ebenfalls arme Brautwerber immer wieder an einem ausgestopften Auerhahn hängen. Und wenn Richard Wiedl als baritongewaltiger Schotte mit seinen beiden Freunden - zwei Whiskey-Flaschen - tanzt, dann bezieht er mal kurz das Foyer mit ein, an dessen Rückwand sich im Regal weitere Whiskey-Flaschen drängeln.

Der musikalische Leiter Fabian Dobler hat mit seiner Bearbeitung von Marschners Partitur aus dem Platzmangel eine Tugend gemacht und Marschners raffiniert instrumentierten Orchestersatz in eine Kammerfassung für Streicher, Flöte, Horn und Akkordeon gegossen. Das ergibt eine verblüffend variable Farbpalette von Spuk über biegsamen Belcanto bis zum Sakralton. Und dass Dobler den Geisterchor der Eingangsszene nicht auftreten lässt, sondern gleichsam aus dem Off dem Orchesterklang beimischt, ist nur eine der vielen originellen Ideen, die diese Produktion weit über die wohlfeile Kategorie "Gespenstergeschichte" herausheben.

Aber was heißt hier Chor? Den liefern natürlich die Solisten. Ihre zahlreichen Ensembles sind eine Freude an Lebendigkeit und Spielwitz. Auch wenn es bei der Premiere an der Abstimmung zwischen Bühne und Graben noch manchmal haperte, war nicht zu überhören, wie gewissenhaft hier gearbeitet worden war.

Auch szenisch scheuten die Beteiligten kein Risiko. Joo-Anne Bitter spielte gleich drei Bräute. Virtuos changierte sie zwischen Naivität und Todessehnsucht und beglaubigte ihre emotionalen Achterbahnfahrten auch im musikalischen Ausdruck - wer stirbt an einem Abend schon gleich mehrfach auf der Bühne? Da störte es kaum, dass ihr voller Sopran mitunter ein wenig monochrom metallisch wirkte. Michael Müller-Deeken verkörperte als Ruthven überzeugend die unheilvolle Verquickung von Erotik und Zerstörungslust, rhythmisch war er aber gelegentlich noch unsicher. Marius Adam konnte seinen wohlklingenden Bass in zwei Vaterrollen zum Einsatz bringen.

Die Erzählung "The Vampire", die Marschner inspirierte, ist lange Zeit Lord Byron zugeschrieben worden, dem skandalumwitterten Vertreter jener Schauerromantik, auf die das England des 19. Jahrhunderts nur gewartet zu haben schien. Mit den jüngsten Auswüchsen dieser Mode haben wir heute das Vergnügen, wenn es an vielen Haustüren so unweigerlich wie unmelodiös "Süßes oder Saures!" grölt. So weit ist es mit unserem spirituellen Erleben gekommen. Armes 21. Jahrhundert.

"Der Vampyr" noch bis 29.1.2012, Hamburger Kammeroper (S Altona), Max-Brauer-Allee 76, Karten unter T. 38 29 59; www.alleetheater.de