Manchmal kommt der Erfolg spät. Das weiß niemand besser als Gunter Gabriel. Ein Besuch auf dem Hausboot des Musikers in Hamburg.

Hamburg. Das da draußen ist ein Industriegebiet. Man könnte die Augen schließen und wüsste es trotzdem, denn drüben auf der Werft schweißen sie noch, die Luft riecht nach Rost, und hier oben auf der Brücke wird gerade Klartext gesprochen. "Hömmal, was is'n das für 'ne bescheuerte Frage?", brüllt ein Mann auf dem Deck seines Hausboots, einfache Jeans, schwarzes Sweatshirt. Die Arme ausgebreitet im Wind. Eine Kamerafrau wollte wissen, ob sie hier rauchen dürfe. Ungläubiges Augenrollen. "Ja Mädel, was meinste denn, wo du hier bist?"

Ja, was meinste denn. Wer hier steht. Und wer das ist.

Vielleicht ist es gar nicht so lange her, dass die meisten Deutschen diese Fragen mit einem Achselzucken quittiert hätten. Einem Augenrollen und der Antwort: Gunter Gabriel halt. Dieser leicht ordinäre Typ, der nie ganz da war, aber auch nie ganz weg, viermal verheiratet, viermal geschieden, viel zu oft am Boden, die Erfolge, der Suff. Der Proll mit dem Boot im Harburger Hafen. Es war die Rolle, die er gespielt hat, die er annahm oder von der er annahm, dass sie ihm stand. So genau kann man das alles nicht mehr sagen. Denn ausgerechnet jetzt, wo schon alles vorbei scheint und alle Peinlichkeiten verbreitet, scheint sie Gunter Gabriel wegzubrechen - die Rolle seines Lebens.

Einem Mann von 70 Jahren.

Man kann noch einmal zurückgehen in die Zeit, als Gunter Gabriel anfing zu singen. Vielleicht muss man das sogar, um alles zu verstehen. Ende der 60er, als es Helmut Kohl noch nicht gab, aber eine Mauer und im Westen so etwas wie Vollbeschäftigung. Gunter Gabriel hat Schlosser gelernt, in Bünde/Westfalen. Hier wurde er geboren. Seine Mutter starb, als er selbst noch ein Kind war - bei der Abtreibung mit einer Stricknadel. Sein Vater schlug ihn so oft, bis Gabriel ihm eines Tages selbst eine langte. Eine Scheißkindheit hat er gehabt, diesen Satz sagt Gabriel häufig. Vielleicht, weil es der Grund dafür ist, dass er nie Lieder über San Francisco gesungen hat, über die ganz großen Ziele, die Träume seiner Generation.

Gunter Gabriel sang über die Arbeiter. Die "Dieselknechte" und ihren Alltag, ein deutscher Countrybarde in Cowboystiefeln mit Akustikgitarre, er meinte das nie ironisch. Wie so viele, die mit ihm begannen. Die sich lächerliche Kostüme anzogen und grenzdebil grinsten und dann hinter den Kulissen doch daran zerbrachen. Gunter Gabriel war kein Schlagersänger, er war auch kein Reinhard Mey. "Hey Boss, ich brauch mehr Geld", "Ohne Moos nix los", das waren Gabriels Lieder. Im schlechtesten Fall wurde er dafür belächelt, im besten einfach verstanden. "Der Dutschke, der war doch viel zu intellektuell für die Arbeiter" sagt Gunter Gabriel, "die haben doch gar nicht begriffen, was der meinte."

Es ist ein Satz aus der "Süddeutschen Zeitung", neulich stand ein Porträt über ihn auf der Seite 3. Gabriel weiß genau, welches man meint. So viele waren es schließlich nicht, die ihn mal so gewürdigt haben, als Menschen und als Songschreiber. 2001 hatte es schon mal einen Artikel über ihn in der "Süddeutschen" gegeben. Im Soldatenheim der Garnisonsstadt Munster war er aufgetreten, vor Rekruten und Kosovo-Heimkehrern, und die Sätze darüber (Seite 12, Panorama) waren ein einziger höhnischer Verriss. Witze über Gunter Gabriel waren schon damals so sicher wie Witze über Lothar Matthäus - und ungefähr so originell. "Der Truckerschlagersänger Gunter Gabriel spielt heutzutage im Soldatenheim auf", stand in der Unterzeile.

+++ Anekdoten pflastern seinen Weg +++

Zehn Jahre liegen zwischen dem Verriss und dem Porträt auf Seite 3. So lange wohnt Gunter Gabriel auch schon auf diesem Boot. Vor Kurzem haben sie noch einmal vier Meter rangeschweißt, und nun sitzt dieser Mann von 70 Jahren in seiner Küche und versucht zu begreifen, was da alles mit ihm passiert ist, in den vergangenen Jahren.

"Ich bin in einer Situation, von der ich nicht mehr dachte, dass ich sie noch erleben würde", sagt Gunter Gabriel. "Ich bin ja am Ende meines Lebens, wenn du so willst." Es ist das Ende eines Lebens, an das man auch noch einmal vier Meter rangeschweißt hat.

Fast 30 Jahre hat Gabriel gebraucht, um als das wahrgenommen zu werden, was er ist: ein Mensch und ein Songschreiber, ein Liedermacher. Und nicht nur Gunter, der Proll. Was man jetzt wunderbar romantisieren könnte, wenn es sich auch nur mal so angefühlt hätte. Natürlich war das Gegenteil der Fall. Gabriel war ja nicht nur auf die Frauen reingefallen (oder sie auf ihn), es gab da auch noch diesen Immobiliendeal. Ein Freund aus Bremerhaven hatte ihm von einem Bauherrenmodell erzählt, das würde Steuern sparen. Am Ende blieben acht Millionen Mark Schulden. Und die wollte er abbezahlen. Einen festen Wohnsitz hatte er von da an nicht mehr, er lebte im Truck, auf der Straße, auf Schrottplätzen. Als man ihm 2007 in der NDR-Sendung "Hermann & Tietjen" sagte, er sei doch schön blöde, warum melde er nicht einfach Privatinsolvenz an, da rastete Gabriel aus. 500.000 Euro Schulden waren damals noch übrig. "Nein", rief er, sprang auf und sagte in die Kamera, dass er jetzt nicht aufgebe. Dass er alles zurückbezahlen wolle. Und dass man ihn dafür gerne buchen könne - für 1000 Euro würde er in jedem Wohnzimmer dieses Landes spielen. Für wen auch immer.

Gunter Gabriel ist aufgeregt. Er erzählt diese Geschichte sehr laut. Im Grunde habe alles angefangen mit dieser Geschichte. Ja, was meinste denn.

Seine Küche ist groß, riesig für ein Hausboot, eine richtige Küchenzeile gibt es und einen geräumigen Tisch, eine ganze Schiffsmannschaft hat hier mal Platz gehabt. Heute sitzen hier Gunter Gabriel und seine Tochter Liesamarie, 27. Sie ist zufällig zu Besuch, eigentlich lebt sie in London, sie ist Modedesignerin. Ihre Stimme klingt leise, ein halber Gabriel, wenn überhaupt.

Liesamarie sagt, dass es sich manchmal anfühlt wie gestern. Obwohl sie noch nicht mal in der Schule war, als sie mit ihrem Vater im Truck auf der Straße gelebt hat, und wenn sie jetzt über diese Zeit spricht, dann sagt sie, dass sie nach Senfbrötchen schmeckt. Da lacht Gunter Gabriel. Es ist ein seltsames Geräusch, ein bisschen wie ein Schnaufen nach innen. "Stimmt", sagt er, "die hatten wir immer, wenn nichts mehr da war." Liesamarie raucht, greift sich einen Block mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und blättert darin.

Dutzende solcher Blöcke liegen in der Küche herum, voll mit Zeitungsartikeln, fein säuberlich aufgeklebt. "Ach, die. Hab ich noch Hunderte von", sagt Gabriel. Überall auf dem Boot. Jeden Morgen schneidet er aus, was ihn interessiert. In Hamburg hat ein Hard Rock Café eröffnet, die Griechen bauen einen Graben gegen Zuwanderer, ein Interview mit Otto, Gottlieb Wendehals. Ein alter Mann im Anzug von damals, hilflos grinsend. Es heißt, das sei sein vierter Entzug. Gabriel schüttelt den Kopf. "Ich kann nicht verstehen, wie man sich so fotografieren lassen kann", sagt er. "Neulich habe ich ihm angeboten, einen Song für ihn zu schreiben. Aber er wollte nicht. Ist ja auch seine Entscheidung." Ein Foto aus einer Modenschau, ein Kalenderspruch, dann ist der Block zu Ende. Er kommt auf den Stapel zu den anderen, hinter denen noch einer ist. Gelesen, sagt Gunter Gabriel, habe er schon immer, "vielleicht ist es sogar das, was mich gerettet hat".

Wer im Harburger Hafen auf das Boot von Gunter Gabriel möchte, der sieht sie sofort, diese riesige Bibliothek. Vielleicht ist sie sein Schutzschild gegen die Welt. Vielleicht ist sie einfach nur eine Sammlung. Auf jeden Fall muss jeder hindurch, der Gunter Gabriel auf seinem Hausboot besucht. Muss vorbei an Hemingway, Erich Kästner, Walter Kohl. Die Geschichte des Souls auf 300 Seiten. Und dann erst in die Küche.

Hier unten, im Bauch seines Schiffes, gibt es fast keinen Platz für Gunter, den Proll. Und deutlicher spürt man es nicht als in diesem Moment: Dass er trotzdem manchmal so sein muss, so werden musste, um das Ganze zu überstehen, die beschissene Kindheit, den Spott, die Häme. Schämst du dich nicht manchmal für alles, was war, möchte man wissen, und die Antwort kommt auf den Punkt. "Nö, hat doch alles gestimmt", sagt er und knippst den Proll an, für eine Sekunde. Doch dann wird er still. Dann überlegt er. "Obwohl, damals. In Berlin. In dieser Kneipe." Die Sätze sprudeln jetzt aus ihm heraus. Am Tresen hat er gesessen, lange her das Ganze. Natürlich hatte er zu viel getrunken, keine leichte Zeit damals, aber das wissen ja die Leute nicht. Die Leute sehen Gunter Gabriel, an der Bar, vor einem Glas Bier. "Hey Boss, ich brauch mehr Geld", haben sie gesungen, "und das hat weh getan", sagt Gabriel, er schaut auf die Tischplatte. "Ich hab mein Bierglas genommen und es dem Typen hinterm Tresen in die Fresse geschleudert." Einfach so. Das nächste, woran er sich erinnert, ist der Moment auf dem Bürgersteig. Als er da lag und sich die Augen zuhielt und ein Satz wie behämmert durch sein Hirn pochte: "Hoffentlich erkennt mich hier niemand." Liesamarie schaut ihn an. "Kanntest du die?", fragt Gabriel, er meint die Geschichte. "Nein", sagt Liesamarie. Sie schüttelt den Kopf. Ja, was meinste denn, scheint ihr Blick zu sagen. Für einen Moment.

Die Geschichten seiner Tiefpunkte füllen den Nachmittag, so viele kann Gabriel erzählen. Denn so hätte es weitergehen können, hätte es nicht diesen unglaublichen Zufall gegeben, im Jahr 2007. Als Gunter Gabriel beim Frühstück in einer Autobahnraststätte saß, A3, irgendwo bei Würzburg. Ein Verlagsleiter des Jugendmagazins "Bravo", zufällig am gleichen Rasthof, erkannte ihn sofort. Gabriel kam gerade von einem seiner Wohnzimmerkonzerte. Der "Bravo"-Mann hörte sich seine Geschichte an. Das meiste davon kannte er; der Teil mit Gabriels enger Freundschaft zu Johnny Cash war ihm neu. Kurz vor seinem Tod waren sie ja noch einmal bei ihm gewesen, er und Liesamarie, und sie waren weinend vor Cash auf die Knie gefallen. Weil sie seinen Anblick nicht ertrugen. Ein alter Mann, dem Tode geweiht.

Der "Bravo"-Mann ging dann zu den großen Plattenfirmen und erzählte ihnen diese Geschichte. Kurz darauf hatte Gunter Gabriel einen Plattenvertrag. "Sohn aus dem Volk" hieß das Album, es sollte klingen wie die legendären "American Recordings" von Johnny Cash. In den Feuilletons zeigte man sich beeindruckt. Und da, ausgerechnet an dieser Stelle seines Lebens, musste Gunter Gabriel weinen. Komisch eigentlich. Oder? "Ja, aber ich konnte das nicht ertragen", sagt er, "Schläge, Härte, ein Arschloch genannt werden, das konnte ich ertragen. Aber Lob? Damit konnte ich nicht umgehen."

Noch immer fällt Gunter Gabriel das schwer. Auch wenn alle jetzt voll des Lobes sind. Elke Heidenreich hat Gabriel gebeten, sein Leben aufzuschreiben, und als Bernd Eichinger noch lebte, wollte er einen Film über ihn drehen. Nun kümmert sich eine Filmfirma in Köln, das Drehbuch sei fertig, sagt Gabriel. Und dann natürlich die Show. "Hello, I'm Johnny Cash" im Altonaer Theater ist der größte Erfolg des kleinen Theaters seit vielen Jahren.

Es ist keine aufgezuckerte Geschichte, die da aufgeführt wird. Sondern die eines Mannes, Johnny Cash, der wie Gabriel den Rausch kannte, den Absturz und die Straße, die Liebe. Und wer könnte all das besser verkörpern als Gunter Gabriel, der Mann, der ihn selbst so lange kannte. Es gibt noch Nachrichten von Cash auf seinem Anrufbeantworter, "Hallo mein Freund, wann kommst du mich besuchen?", sagte er, Gabriel hat sie bis heute nicht gelöscht. Cash wollte, dass Gabriel seine Lieder auf Deutsch singt. Nun spielt er den verstorbenen Freund in einer eigenen Show.

Im Altonaer Theater wollen sie ihn nicht von der Bühne lassen, Abend für Abend geht das so. Da steht er, ein Mann von 70 Jahren. Und hält sich die Hand auf das Herz. Vielleicht wartet der Proll am Bühnenausgang. Vielleicht ist er aber auch fort. Für immer. "Ja, ich glaube, das ist die größte Veränderung in meinem Leben", sagt Gunter Gabriel am Ende. "Dass ich endlich fähig bin, ein normaler Mensch zu sein."