Im Abendblatt-Interview erzählt Gunter Gabriel, wie die Literatur ihm Tag für Tag hilft, sein Leben zu ertragen

Stade/Harburg. Wenn es um Gunter Gabriel geht, dann weiß man als Leser, Zuhörer oder Fernsehzuschauer gleich Bescheid. Denn wenn Journalisten Gabriel irgendetwas fragen, dann geht es immer um den Suff, um das Geld und um das Leben als solches. Um Frauen natürlich. Und um Johnny Cash.

Diese Themen bestimmen die Fragen, die Gabriel in jeder x-beliebigen Talkshow zu hören bekommt. Langweilig? Stimmt. Deshalb machen wir gern mal eine Ausnahme. Der Sänger, der auf einem Hausboot in Hamburg-Harburg wohnt und oberflächlich eine ruppige Ausdrucksweise pflegt, ist nämlich in Wahrheit ein Freund des gewählten Wortes. Was kaum jemand weiß: Seit seinem 13. Lebensjahr liest Gabriel leidenschaftlich gern. Und genau darüber spricht er nun.

Hamburger Abendblatt:

Herr Gabriel, lassen Sie uns über Bücher sprechen. Ihr ganzes Boot ist voll damit...

Gunter Gabriel:

Das ist nur ein Teil meiner Bücher, nämlich die, die ich seit 1996 gekauft habe, also seit ich in Hamburg lebe. Ich lese seit meinem 13. Lebensjahr, aber ich bin viermal verheiratet gewesen und viermal geschieden. Meine Bücher habe ich immer stehen lassen. Ich habe überhaupt immer alles stehen lassen. Die meisten meiner Bücher sind also bei meinen Ex-Frauen. Wenn mir mal eins in meiner Sammlung fehlt, dann rufe ich da an und sie geben es mir.

Abendblatt:

Das bedeutet Sie besitzen in Wirklichkeit fünfmal so viele.

Gabriel:

Ja, aber das interessiert ja letzten Endes auch nicht. Weil ich heute eine ganz andere Art habe, Bücher zu lesen, als früher. Wenn ich so etwas hier kaufe (er greift nach einem dicken Elvis-Bildband), kaufe ich immer gleich 20 Stück. Und dann verschenke ich die. Weil das einfach geil ist. So etwas finde ich nur, weil ich überall rum wühle. Früher habe ich in Kneipen rum gesessen, heute sitze ich in Buchläden. Meine Kinder haben als Grundausstallung alles von Elvis bekommen. Ich hätte ihnen auch Hermann Prey schenken können, "Die Winterreise" von Schubert. Aber ich habe gesagt: Fangt erst mal mit Elvis an und dann sehen wir weiter. Und genau so ist es auch mit Büchern. Es gibt drei Bücher, die entscheidend sind.

Abendblatt:

Und die wären?

Gabriel:

Zum einen das Reiselexikon von Meyer. Das hilft immer, wenn man mal nicht weiß, was etwas ist. Zum Beispiel habe ich heute Morgen einen Ausdruck gelesen... Moment... (Gabriel sucht in säuberlich abgehefteten Zeitungsausschnitten). Ich lese immer und schneide aus, was mich interessiert. Auch schon seit Jahren. Guck mal hier, von Claus Jacobi, der schreibt immer sonnabends in der Bild. Da geht es um Winston Churchill und der hat mal gesagt: Ich bin primus inter pares. Das habe ich nicht verstanden, weil ich auch nur Volksschule habe, also habe ich mein Lexikon rausgeholt und nachgeschaut.

Abendblatt:

Und was bedeutet es?

Gabriel:

"Ich bin der erste unter Gleichen". Normalerweise liest man doch über so etwas hinweg, hat keine Zeit, sich mit so etwas zu beschäftigen. Ich doch! Vielleicht nicht sofort. Ich schneide mir das aus und lese es vielleicht ein paar Tage später. Und dann hilft mir mein Lexikon. Das habe ich immer dabei, wenn ich unterwegs bin. Oder ich kaufe mir ein neues.

Abendblatt:

Unterstreichen Sie genau wie in den Zeitungsartikeln hier auch in Büchern die wichtigen Sätze und Wörter?

Gabriel:

Ja sicher! Was ein guter Gedanke ist, muss angestrichen werden. Sonst ist er weg. Das Buch muss ja etwas bringen, sonst brauch ich es doch gar nicht zu lesen. Wir werden so zugeknallt mit Informationen, man muss sortieren. Das ist natürlich alles aufwendig, aber es bringt was. Ich habe das schon immer gemacht, das hat mit meinem Beruf gar nichts zu tun. Ich bin dadurch vielleicht sogar zu meinem Beruf gekommen.

Abendblatt:

Durch das Lesen?

Gabriel:

Ja, das Lesen hat mich gerettet. Ich habe im Leben viel auf die Schnauze gekriegt. Durch die Literatur habe ich mein Leben ertragen können.

Abendblatt:

Inwiefern?

Gabriel:

"Die Lyrische Hausapotheke" zum Beispiel. Das ist eine Gedichtesammlung von Erich Kästner. Wenn's dir scheiße geht, sagen wir mal, du hast Liebeskummer, dann stehen unter "Liebeschmerz" zehn Gedichte. Oder wenn du Bauchschmerzen hast. Andere gehen an den Schrank und holen Pillen, ich lese die Gedichte durch. Die bringen dich zum Schmunzeln. Dieses Buch hat die Frau von Reich-Ranicki, die gerade gestorben ist, im Ghetto von Warschau übrigens mit der Hand auswendig aufgeschrieben. Die hatte das komplette Buch im Kopf. Das ist doch großartig, dass es so etwas gibt. "Die lyrische Hausapotheke" ist auch eins der drei entscheidenden Bücher.

Abendblatt:

Und welches ist das dritte?

Gabriel:

Der alte Mann und das Meer von Hemingway natürlich. (Gabriel geht zum Bücherregal und bringt vier Exemplare mit). Hier, ich schenk' Ihnen eins. Meine Kinder kriegen das jedes Jahr von mir zu Weihnachten. Die drehen schon durch und sagen: "Wir haben das jetzt 20-mal gekriegt, langsam reicht es". Ich sage ihnen dann: "Wieder lesen!"

Abendblatt:

Was gefällt Ihnen an dem Buch so?

Gabriel:

Die Symbolik. Dafür hat Hemingway ja nicht umsonst den Nobelpreis bekommen. Dieses Buch ist eine Lebenshilfe. Es sagt, wie man trotz Verlusten durch das Leben kommt. Oder warum ein Verlust letztendlich sogar ein Gewinn sein kann. Es geht ja darin um einen Fischer, der nie einen großen Fisch gefangen hat und alle lachen ihn aus. Dennoch fährt er jeden Morgen wieder aufs Meer. Eines Tages beißt ein riesiger Marlin an. Der ist so groß... mein Erfolg war so groß, das Geld, das ich verdient habe, war so viel, dass ich nicht wusste, was ich damit mache.

Abendblatt:

Das heißt, Sie haben sich in dem Buch wiedergefunden.

Gabriel:

Ja, aber nicht nur ich, sondern jeder kann sich darin finden. Das entscheidende ist ja, gibt es ein Happy End? Der Marlin versucht, den Fischer unter Wasser zu ziehen, sie kämpfen mehrere Tage. Am Ende tötet er den Fisch, bindet ihn am Boot fest und fährt in den Hafen. Aber auf dem Weg fressen die Haie den gesamten Fisch auf. Doch als der Fischer im Hafen ankommt, sehen alle, die vorher über ihn gelacht haben, das große Gerippe und sagen: "Ist das nicht geil, der hat so einen riesigen Fisch gefangen". Und am nächsten Tag fährt der Fischer wieder aufs Meer. Das ist doch das Leben! Dieses ewige Rauf und Runter.

Abendblatt:

Das sind ja aber nun keine Bücher, die man mit 13 liest. Was hat Ihre Begeisterung für das Lesen geweckt?

Gabriel:

"Prinz Eisenherz", "Tarzan" und so Sachen habe ich natürlich auch gelesen. Aber ich hatte immer eine Affinität zu Büchern, von denen man was lernen kann. Albert Schweitzer war als Jugendlicher mein großes Vorbild. Schweitzer war ein großer Organist und als er 30 Jahre alt war, hatte er gehört, dass in Afrika Menschen unter erbärmlichen Umständen sterben. Lepra war damals die Krankheit. Also hat er Medizin studiert und ist nach Afrika gegangen, an den Kongo, hat da eine medizinische Station aufgebaut und die Lepra-Kranken geheilt. Das fand ich als junger Bengel unglaublich.

Abendblatt:

Sind Sie ein wissgieriger Mensch?

Gabriel:

Ich bin neugierig, ja. Jetzt im Alter sogar noch viel stärker als je zuvor. Deswegen sage ich jedem jungen Bengel: Fang an zu Lesen! Fang meinetwegen mit der Bild an oder irgendeiner Tageszeitung.

Abendblatt:

Wann lesen Sie, vor dem Einschlafen?

Gabriel:

Nein, vor dem Einschlafen wird nicht gelesen, da wird gekuschelt und geknutscht. Außerdem muss ich beim Lesen hellwach sein. Ich lese ganz bewusst, möglichst morgens, für eine Stunde oder zwei.