Der Ire Colm Tóibín erzählt in “Brooklyn“ anrührend die Geschichte einer jungen Irin, die in den Fünfzigerjahren ihr Glück in Amerika versucht.

Vielleicht ist es ein Allerweltsschicksal, das der irische Schriftsteller Colm Tóibín in seinem Roman "Brooklyn" beschreibt. Denn so sieht das Leben der jungen Irin Eilis Lacey auf den ersten Blick ja auch aus: ziemlich normal und gar nicht außergewöhnlich. Jedenfalls dann nicht, wenn man in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer Kleinstadt Irlands lebt, jung ist und keinen Job hat. Wie so viele andere verlässt Eilis ihre Heimatstadt Enniscorthy, die übrigens auch die des Autors ist, und hofft auf Glück und Erfolg im "Land der Freien und Tapfren". Und wie viele andere kotzt sich Eilis auf der Überfahrt nach Amerika beinahe die Seele aus dem Leib.

Und doch ist dieser Roman etwas sehr Besonderes. Das liegt zum einen gewiss an Colm Tóibíns Heldin, die durch ihre offene, freundliche und zugewandte Art sehr schnell die Sympathie des Lesers gewinnt. Vor allem aber fasziniert, wie sich der 1955 geborene Schriftsteller, der mit seinem letzten Roman "Porträt des Meisters in mittleren Jahren", einem biografischen Roman über den Schriftsteller Henry James, auch hierzulande Erfolg hatte, sich dieser jungen Frau nähert: mit größter Empathie, wobei er aber jede Zudringlichkeit und Distanzlosigkeit zu meiden versteht. Tóibín beschreibt sie und auch seine anderen Figuren mit verblüffender Gelassenheit.

Es scheint gar, als habe er dabei alle Zeit der Welt, auf so würdevolle und ruhige Weise breitet er deren Leben aus. Dabei urteilt er nicht und verdammt nicht: als sei ihm die Seele seiner Heldin heilig. Ihm gelingt dabei das seltene Kunststück, dass man selbst den eher langweiligen Tätigkeiten seiner Figuren mit Neugier folgt.

Auf diese Weise nehmen wir als Leser interessiert teil an den neuen Erlebnissen und auch bitteren Erfahrungen, die die junge Eilis in dem wildfremden Land, in New Yorks Stadtteil Brooklyn, zu machen hat. Wir ertragen mit ihr die nächtliche Hitze in ihrer kleinen Pension, in der unter der Fuchtel einer irischen Herbergsmutter lauter junge Irinnen leben, wir sitzen mit ihr bei Frühstück und Abendbrot in der Küche, beim Tischgebet und den Gesprächen, in denen "jede Erwähnung von männlichen Bekanntschaften" missbilligt wurde. Wir stehen neben ihr im Kaufhaus Bartocci, wo sie als Verkäuferin arbeitet, und begleiten sie abends ins College, wo sie einen Fortbildungskursus besucht. Wir leiden mit ihr, wenn sie von Heimweh attackiert wird. Und freuen uns schließlich über die Begegnung mit Tony und das Aufkeimen einer Liebesgeschichte.

Colm Tóibín berichtet ein vermutlich ganz typisches Emigrantenschicksal, er thematisiert die Hoffnungen und Wünsche der jungen Leute, etwas aus ihrem Leben zu machen und der Arbeitslosigkeit und Armut zu Hause zu entkommen.

Und er erzählt von den Ambivalenzen einer Seele, die hin- und hergerissen ist zwischen der alten und der neuen Heimat, zwischen dem verheißungsvollen Aufbruch ins Neue und dem Festhalten am Alten, zwischen dem Vertrauten und dem Fremden. Und nicht zuletzt erzählt er von der Ausweglosigkeit einer Situation, in der nicht mehr zu unterscheiden ist zwischen richtig und falsch. Insofern ist "Brooklyn" auch ein Entwicklungsroman und ein Roman über das Erwachsenwerden, was nicht immer nur Glück verheißt, sondern nicht selten grundiert ist von einer "nagenden Traurigkeit". Dennoch ist es der Glücksfall eines Romans: berührend, ergreifend und niemals kitschig.

Colm Tóibín liest am 4. November in Hamburg aus seinem Roman in der Buchhandlung Felix Jud, Neuer Wall 13, 19 Uhr, Moderation und Lesung des deutschen Textes: Rainer Moritz, 10 Euro, Kartentelefon: 040/34 34 09 oder -85

Colm Tóibín: "Brooklyn". Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. Hanser Verlag, 303 Seiten, 21,90