Ingrid Noll, die vor wenigen Tagen 75. Geburtstag feierte, seziert in ihrem Kriminalroman “Ehrenwort“ einmal mehr das fragile Familienleben.

Es ist nur ein Ausrutscher, aber er bricht einer ganzen Familie das Genick. Als nämlich Willy, der höchst betagte Großvater, eines schönen Tages in der Küche in einer Lache schon leicht ranzig riechenden Rapsöls das Gleichgewicht verliert und auf die Fliesen stürzt, ist es auch mit der sorgsam gehüteten familiären Balance dahin. Willy kann fortan nicht mehr allein in seinem Haus wohnen. Wohin also mit Opa? Bleibt nur die Familie seines Sohnes Harald, der zeitlebens unter seinem strengen Vater gelitten hat. Glückliche Fügungen sehen anders aus.

Auf dieser dezent dramatischen Matrix entwickelt Ingrid Noll, vor wenigen Tagen 75 Jahre alt geworden, ihren neuen Kriminalroman "Ehrenwort". Wobei, es handelt sich eher um eine Kriminalkomödie, durchtränkt von einem rabenschwarzen Humor, den Ingrid Noll in ihrem vorigen Roman "Kuckuckskind" vermissen ließ.

Es sind kleine, scheinbar lapidare Ereignisse, in deren Schilderung Noll wie nebenher familiäre Strukturen punktgenau seziert, manchmal augenzwinkernd, manchmal böse. Feine Beobachtungen eben jener Risse, die im fragilen Familienleben entstehen, als der Großvater ins Dachgeschoss einzieht - in jenes Zimmer, das zuvor Tochter Mizzi bewohnt hat. Sie hat es aus der beschaulichen Kleinstadt im Süddeutschen nach Berlin verschlagen, der Liebe wegen - Mizzi will ihre Freundin heiraten. Eine Lesbenhochzeit! Ein Skandal ohnegleichen.

Der Einzige, der sich um den Großvater, der in klaren Momenten gern mit lateinischen Weisheiten parliert, kümmert, ist Haralds Sohn Max. Auch er wird vom Vater als minderwertig erachtet, da er wenig Engagement zeigt in seinem Studium und eher darauf achtet, dass er möglichst viel Geld zusammenbekommt. Denn Max hat einen Fehler gemacht und wird seitdem von einem Kleinganoven erpresst. Doch das ahnt niemand; wieder so ein Familiengeheimnis, dessen fatale Folgen für das familiäre Gefüge Ingrid Noll präzise - und immer auch so feinsinnig wie humorvoll - zu erzählen weiß. Dass Max sich ausgerechnet auch noch in Jenny, die attraktive blonde Pflegerin seines Großvaters, verlieben muss, macht die Sache schlussendlich nicht einfacher. Denn auch Jenny trägt ein dunkles Geheimnis in sich - und das wiederum hängt auch mit der Erpressung von Max zusammen.

Deren Folge: Zuerst denkt man, es ist einer ermordet worden, dann aber ist er es gar nicht. Doch einen Mord gibt es schon, eine Art skurriler Ehrenmord, in sich vollkommen plausibel.

Es ist eine ungemein komplexe, gleichwohl ernüchternd alltäglich anmutende Welt, die Ingrid Noll, die lange Jahre ihre Mutter bis zu deren Tod gepflegt hat, in ihrem Roman beschreibt. Und als wäre nicht alles schon kompliziert genug, wird auch noch Max' Vater von einem anonymen Anrufer und Briefeschreiber bedroht. Denn Harald, Architekt von Beruf, plant eine gigantische Tiefgarage unter der Innenstadt zu bauen - einige Anwohner befürchten da Risse im häuslichen Gemäuer. Familien sind bei Ingrid Noll halt bedroht, ob von außen oder von innen.

Ingrid Noll: Ehrenwort Diogenes-Verlag, 336 Seiten, 21,90 Euro.

Lesung: Ingrid Noll und Ulrich Wickert, musikalische Begleitung Salut Salon, Hamburger Krimifestival, 1.11., 20 Uhr, Kampnagel. Karten zu 16,-: HA-Ticketshops, T. 30 30 98 98 und T. 48 09 30