Es ist sein erstes Interview im Ausland: Der Autor Liao Yiwu spricht mit dem Abendblatt über China, die Freiheit und vier Jahre im Gefängnis.

Berlin. Seinen Koffer hat er erst halb ausgepackt, mitgebracht hat er außer ein paar persönlichen Kleinigkeiten seine Musikinstrumente: die Xiao, eine lange Bambusflöte, die er im Gefängnis spielen lernte, eine bronzene Klangschale und ein Holzkästchen mit tönenden Metallzungen. Außerdem Bücher - das "I Ging", das mehr als 3000 Jahre alte Orakel-"Buch der Weisheit", das er mithilfe von geworfenen Münzen nach seiner Zukunft befragt. Und das Shiji, "Die Aufzeichnungen des Sima Qian", des großen chinesischen Schriftstellers um 100 v. Chr., den er als Bruder sieht, in dessen Tradition er seine eigenen Werke verstanden wissen will.

Liao Yiwu, 52, chinesischer Dichter, Schriftsteller und Musiker, dessen Werke in seinem Heimatland verboten sind, sitzt in seinem Zimmer im Berliner Hotel Bleibtreu. Im Rahmen des Projekts "LiteraturRaum" soll es ihm für die nächsten sechs Wochen eine Heimstatt sein. Die Vorsehung habe ihm die Ausreise ermöglicht. "Und die hartnäckige Solidarität meiner deutschen Freunde." Mit seinem sorgfältig rasierten Schädel wirkt er wie ein freundlicher Mönch. Sein langes Bangen und die Jahre der Entwürdigung im Gefängnis lässt er sich nicht anmerken.

Jetzt ist er da, einfach so. Eigentlich ist das grundnormal, aber genau das lässt die langen Jahre der Ausreiseverweigerung durch die chinesische Regierung noch absurder erscheinen. Liao wirkt entspannt, antwortet selbstbewusst, manchmal hintergründig und verschmitzt, manchmal kompromisslos hart. Er feilt mit Dolmetscherin Martina Hasse an einzelnen Formulierungen, als er dem Hamburger Abendblatt noch am Tag seiner Ankunft sein erstes Zeitungsinterview im Ausland gibt.

Hamburger Abendblatt:

Herr Liao, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie am Dienstagabend in Peking tatsächlich starten konnten?

Liao Yiwu:

Ich habe mich etwas nervös daran erinnert, wie ich im März in Chengdu im Flugzeug saß und nach Köln wollte. Gerade, als die Stewardess sagte: "Bitte anschnallen", kam eine Frau und sagte: "Nehmen Sie Ihr Gepäck, steigen Sie wieder aus."

Haben Sie eine Idee, was die Behörden jetzt zum Einlenken gebracht hat?

Liao:

Wahrscheinlich wollen die mal rauskriegen, was ich gemacht hätte, wenn sie mich schon vorher herausgelassen hätten.

Es bleibt dennoch eine Gnade Ihres Staats, dass Sie ausreisen durften ...

Liao:

Nein. Das ist eine Freiheit. Ein Menschenrecht, das mir zusteht. Ich denke nicht: Ah, da kommt der Kaiser und lässt dich raus - und bin dankbar. Ich bin anders.

Viele Chinesen, oppositionell oder nicht, sind nach dem Niederschlagen der Demokratiebewegung 1989 erst einmal im Ausland geblieben. Werden Sie zurückkehren?

Liao:

Natürlich gehe ich zurück. Ich habe meinen Beruf in China, hier wäre ich ja arbeitslos.

Nur mal angenommen, man ließe Sie nicht zurückkehren?

Liao:

Dann müsste ich tun, was ich in den Jahren vor meiner Ausreise tat: es mit einem langen Atem immer wieder probieren.

Auf welche Erfahrungen und Begegnungen in Deutschland freuen Sie sich?

Liao:

Ich möchte gern die Musikerszene kennenlernen, ich will sehen, was die machen und wie die leben. Am liebsten würde ich eine CD mit meiner Musik aufnehmen.

Hat man Ihnen je angeboten: Hör auf mit dem, was du machst - und du wirst ein bequemes Leben haben?

Liao:

Die wissen genau, dass ich nicht naiv bin, sondern ein richtiger Dickkopf. Außerdem sind meine Bücher in China sowieso verboten, die gibt es ja nur auf dem Schwarzmarkt, wo sie auch von Polizisten gekauft werden. Privat finden die auch, dass richtig ist, was ich aufschreibe. Offiziell gedruckt wäre es aber eine "Beeinträchtigung des Fortschritts der sozialistischen Gesellschaft".

Das hochemotionale Gedicht "Massaker" hat Ihnen 1990 vier Jahre Gefängnis eingetragen. Wie stehen Sie heute zu diesem Text?

Liao:

Damals hab ich einfach wie ein Privatmann meine Meinung aufgeschrieben ...

... bevor die Armee geschossen hat ..

Liao:

Eingebung des Dichters. Ja, ich war fertig mit dem Schreiben am Tag vor dem Massaker. Dann aber hat dieser Text mein ganzes Leben verändert. Schicksal, Karma - ohne das Gedicht wäre ich nicht im Gefängnis gewesen. Und es wäre nicht diejenige Meinung zu den Ereignissen geworden, die sich am meisten verbreitet hatte damals in China.

Wann sind Sie zum ersten Mal mit der Staatsmacht in Konflikt geraten?

Liao:

Die Staatsmacht ist doch mit mir in Konflikt geraten. Gleich 1958, schon in meinem Geburtsjahr. Durch die große Hungersnot, die Maos Tse-tungs "Großer Sprung nach vorn" hervorrief. Und als ich sieben, acht Jahre alt war, zum zweiten Mal, als die Kulturrevolution ausbrach, ich nicht mehr in die Schule gehen konnte, zu so einem Landstreicherkind wurde. Meinen Vater haben sie eingesperrt.

Sie wären als Baby während der großen Hungersnot fast gestorben, Sie haben im Gefängnis zweimal versucht, sich umzubringen. Was macht Sie stark?

Liao:

China ist ein Land mit der allerehrwürdigsten und allerfeinsten Kultur, aber mit dem allerhässlichsten System. Nicht nur heute, auch schon vor tausend Jahren, das hat bei uns Tradition. Schon immer versuchen die Schriftsteller, mit ihrer Kultur das System zu verbessern. Wir wiederholen nur, was unsere Vorfahren versucht haben. So wie Sima Qian. Der wurde kastriert und hat dann die "Aufzeichnungen des Sima Qian" geschrieben.

Gibt es Entwicklungen in China, die Sie optimistisch stimmen?

Liao:

Im Augenblick? Nein, wirklich nicht. Staudämme, all die Umweltprobleme - es wird eher schlimmer.

Wie öffentlich kann sich kritische Kunst in China derzeit äußern?

Liao:

Das läuft alles über das Netz und über Twitter. Wenn es mal eine Lesung oder Kunstsession gibt, in einer Untergrundkneipe oder in privaten Räumen, wird das aufgenommen und ins Netz gestellt.

Überwachung - wie sieht es damit bei Ihnen aus?

Liao:

Das kennt Ihr ja alle hier, etwa aus dem Film "Das Leben der Anderen", mehr muss ich wohl nicht sagen. Das ist bei uns jeden Tag Realität.

Menschen außerhalb Ihrer Künstlerkreise - wie stehen die zu dem, was Sie tun?

Liao:

Meine Bücher sind unter der Hand enorm weit verbreitet. Wären sie offiziell gedruckt, wäre ich wohl schon Millionär. Dass ich trotz Verbots gelesen werde - das ist die Unterstützung der Leute für mich.

1990, als Sie ins Gefängnis gingen, haben die Sicherheitskräfte alle Ihre Manuskripte konfisziert. Ist das später noch öfter passiert?

Liao:

Das passiert bei vielen. So versucht man, dem Denken eine Richtung zu verpassen. Das Buch, das nächstes Jahr bei S. Fischer herauskommt, musste ich zum Beispiel noch mal schreiben, so wie viele andere Sachen auch. Aber dabei werden die Texte ja jedes Mal besser.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Liao:

Ich spreche immer noch mit Leuten aus der Unterschicht. Da kommen immer mehr. Das Volk will, dass ich aufschreibe, was es zu sagen hat. Das ist viel stärker, als es meine Fantasie sein könnte.

Und was bewirkt die Zensur?

Liao:

Ein Freund zum Beispiel hatte einen Kurzroman geschrieben. Der wurde abgelehnt. Also hat er den Text verändert, da war er doppelt so lang. Nach einer weiteren Ablehnung wieder. Nach zehn Jahren war er zehnmal so lang wie am Anfang - und wurde im Ausland ein großer Erfolg. Er sagt: "Ohne die Zensur wäre das Buch so nie geschrieben worden."

Haben Sie manchmal das Bedürfnis zu sagen "Jetzt reicht's" - und nicht weiterzukämpfen?

Liao:

Wenn ich schreibe, fühle ich mich total verlassen und einsam. Dann lese ich Sima Qian, und es geht mir besser. Oder ich spiele die Xiao-Flöte, um meine Balance zu finden. Das konnte Sima Qian nicht - also bin ich doch besser dran als er.

Wie stellen Sie sich Ihr Land in einer Zukunft vor, in der Sie gern leben?

Liao:

Wie beim Schnapstrinken (lacht) . Da ist China ja besonders weit entwickelt. Wenn wir nicht trinken, denken wir immer: Das können wir nicht sagen, und das macht wieder Probleme. Das fällt alles weg, wenn wir sturzbesoffen sind. Dann reden wir, dann sind wir die Allerfreiesten, haben keine Hemmungen mehr, können alles sagen. Dann könnten wir sogar demokratisch sein.

Liao Yiwu und die Underdogs der chinesischen Gesellschaft , heute, 19 Uhr, Museum für Hamburgische Geschichte (Holstenwall 24), Moderation: Hans-Juergen Fink, Karten an der Abendkasse oder im Vorverkauf sind noch ausreichend vorhanden, Eintritt 10,-