Von der blühenden Kreativlandschaft in Leipzig kann die Hansestadt Hamburg im Umgang mit Künstlern und Kunst noch lernen.

Leipzig. Um ein Bild zu erfassen, braucht es genügend Abstand und die passenden Perspektiven. Drei Zugstunden vom Hamburger Gängeviertel entfernt, auf einem Industriegelände in Leipzig-Lindenau, kann man sehen, was das bedeutet. "Wenn du hierherkommst, weißt du sofort, dass das kein Mainstream ist", sagt einer, der es wissen muss. "Das ist ein undurchsichtiges Gestrüpp, es passiert alles Mögliche."

Mit der Spinnerei hat Leipzig seit 2001 einen institutionalisierten Freiraum für Künstler. Es ist ein Erfolgsmodell, hier und da kopiert, aber so nie erreicht. Was kein Wunder ist. Die Leipziger Situation lässt sich mit den Rahmenbedingungen in Hamburg nicht vergleichen - aber es gibt viele Aspekte, bei denen Hamburg von Leipzig lernen kann. Wie man Dinge im öffentlichen Raum geschehen lässt, wie man die Bedeutung von Kunst gewichtet. Wie man nicht immer nur an möglichst viel Geld denkt. Wie man Künstler als kreative Egomanen ernst nimmt, anstatt sie nur als Szene-Kitt zur Aufwertung einer Portion öffentlichen Raums einzusetzen.

Vor Kurzem erst, berichtet der Spinnerei-Geschäftsführer Bertram Schultze, habe die "New York Times" eine Liste von 31 Orten veröffentlicht, die man weltweit unbedingt besuchen müsse. Leipzig war auf Platz zehn. Als einzige deutsche Stadt.

Das Gelände selbst ist eine gehaltvolle Kraut-und-Rüben-Mischung aus Professionalität und Unangepasstheit. Beeindruckend ergebnisoffen. Ein quicklebendiger Nährboden, der liebevoll beackert wird, um ordentlich Lorbeeren zu ernten. Dreimal im Jahr lädt die Spinnerei zu "Rundgängen" ein, dann ist das Gelände noch öffentlicher als ohnehin.

Besonders die Patina der Spinnerei hat es Christine Ebeling, der Sprecherin des Gängeviertels, angetan. Sie besucht mit dem Gängeviertel-Künstler Mark Matthes den "Rundgang". Wenig Veränderung und ein subtiler Umgang mit der Substanz, das gefällt den Künstlern aus "dem Viertel". Ebeling: "Man merkt, dass man sich hier Zeit nehmen kann." Etwas neidvoll blicken die Besucher aus Hamburg auf die Leipziger Großzügigkeit. "Das ist schon ein bisschen größer als bei uns ..."

Direkt vor seiner Galerie "Eigen + Art" hält Gerd Harry Lybke, Spitzname Judy, Hof. Der Oberbürgermeister hat sich schon per SMS angekündigt. Die Entscheidungswege sind kurz; im Vorbeigehen meldet sich ein Geschäftsmann bei Schultze als Interessent für eine freie Mietfläche an. Lybke glüht vor und genießt den Trubel. "In Leipzig kannst du jeden Morgen aufs Neue entscheiden, was du sein willst." Heute will Lybke, der Galerist des Neue-Leipziger-Schule-Stars Neo Rauch, vor allem wichtig sein. Natürlich singt er das Hohelied auf seine Heimatstadt, schwärmt von Tradition, serviert Leipziger Allerlei - diverse Gemüse, einzeln gekocht und danach in den Kollektiv-Topf - als Mentalitäts-Metapher. Die Formulierung mit dem undurchdringlichen Gestrüpp stammt von ihm, aber auch diese: "Man ist hier mit Künstlern schon immer sehr konkret umgegangen." Bach beispielsweise. 27 Jahre lang hat der jeden Sonntag eine Kantate abgeliefert. "Der Künstler ist da, dem gibt man was, dann gibt er einem was zurück." Das mit dem Geben und dem Nehmen ist wichtig hier. Zu den für Hamburger Verhältnisse paradiesisch niedrigen Atelier-Mieten, die sich seit Jahren kaum erhöht haben, meint Lybke: "In Hamburg wäre es nicht bei 3,50 für den Quadratmeter geblieben. Die sind hier alle sehr entspannt. 3,50 - und gut ist. Man ist ja Realist."

Einige sind aber auch Profis. Neben Lybkes Galerie präsentiert Hilario Galguera den Bilderzyklus "Dark Trees" von Damien Hirst, der sich mit Tod und Vergänglichkeit auseinandersetzt. Von dem Damien Hirst, dem Kunst-Superstar mit Rekordpreisen. Was müsste man hier hinlegen für das Ganze? Zehn Millionen Euro, das sei ein echter Freundschaftspreis, antwortet die Dame am Tresen, ohne mit einer gut geschminkten Wimper zu zucken. Als Überredungserleichterung hat sie Tequila in Griffweite. Der Chef ist Mexikaner.

Einige Meter Luftlinie entfernt haust der englische Aktionskünstler Jim Whiting auf einer ganzen Hallen-Etage in einer bewohnbaren Geisterbahn. "Bimbotown" ist Gesamtkunstwerk aus schrillen Bastelarbeiten. Polstermöbel, die sich per Hydraulik zur Decke bewegen, Krimskrams für 1001 Party-Nächte. Mit den zappelnden Puppen-Beinen für Herbie Hancocks "Rockit"-Video hat Whiting 1983 Pop-Geschichte geschrieben und einen Grammy bekommen. Jetzt ist er hier, in Leipzig. Allerdings auch - wir haben frühen Nachmittag - noch nicht so ganz wach. Die Geburtstagsparty letzte Nacht, you know.

Die Spinnerei ist eine typisch Leipziger Methode, Künstlern die Freiräume zu gewähren, die sie brauchen. Eine andere, für Stadtentwickler noch interessantere, ist nur einige Minuten entfernt. Engertstraße 23; ein klassizistischer Eckbau von 1907, vier Stockwerke hoch, mit einem Banner "WÄCHTERHAUS" an der Front. Im Erdgeschoss findet sich ein Kulturverein; vor dem Eingang haben Fußspuren ein Herz in den Schnee getreten. Nette Begrüßung. Im Flur frühes 20. Jahrhundert, Treppen aus dunkler Eiche, braune Wandfarbe, massige Kastentüren. Automatisch geht der Gängeviertel-Künstler Mark Matthes langsamer, staunend den Blick erhoben. Oben erwarten die Bewohner und Künstler, die das Wächterhaus als Atelier zwischennutzen, die Besucher aus dem Gängeviertel. Auf den Tischen stehen Reste von Weihnachts-Süßigkeiten und Tafeln feinster Schokolade von Aldi. Auf den Staffeleien halbfertige Ölbilder mit esoterisch angehauchten Motiven.

Die Bewohner, wie die Mediengestalterin Carola Grund, strahlen Ruhe aus. Auch die Chefs vom Verein HausHalten, die Väter der Wächterhaus-Idee, sind da. Und stolz sind sie auf ihr Erfolgsmodell, das seit 2004 in 13 Leipziger Häusern mit 200 Nutzern umgesetzt wird. "Wir wollen die Idee in die Welt tragen." Wer als "Wächter" in ein Haus geht, zahlt einen geringen Betrag an den Verein, Wasser, Strom und die Kohle für den Eisenofen. "Sonst keine Kosten?", fragt Christine Ebeling. Nein. Dann bringt sie die Sprache auf die "städtischen Liegenschaften". Gute Frage. "Man sollte es nicht glauben", legt Vereinschef Mothes los, "es waren schwere, schwere vier erste Jahre, bevor es uns gelungen ist, zu Verträgen mit der Stadt zu kommen." Erst die Erfolge mit privaten Eigentümern hätten ein Umdenken bewirkt. Und: "Als die Stadt merkte, welchen Aufmerksamkeitswert die Wächterhäuser erreichten, lenkte sie ein." Kopfnicken bei allen. Ja, ja, die Stadt.

Tim Tröger, Gründungsmitglied von HausHalten, gibt den Gängeviertel-Besuchern noch eine Einladung mit auf den Weg. Diese könnten sich im Erdgeschoss mit einer Ausstellung oder Aktion für einige Wochen präsentieren. Kopfnicken. Und draußen gibt es noch den Hinweis für den Rückweg, dass das Herz im Schnee wirklich für den Besuch aus Hamburg gemacht ist.

Wenn man aus einer Millionenstadt im Westen anreist, in der Künstler seit Jahren darum kämpfen, Atelierräume zu erhalten und -konzepte durchzusetzen, wirkt dieses Ausmaß von Kunst-Leidenschaft im Osten fast schon beschämend. Leipzig leistet sich diese Haltung. Hamburg musste es sich erst schönrechnen und erklären lassen, bis der Umschwung zum Sinnvolleren beginnen durfte. "Die Leipziger kommen hierher, weil sie es zu ihrer eigenen Sache gemacht haben. Es gehört denen", erklärt Lybke das Spinnerei-Erfolgsrezept, "die haben es so angenommen, dass sie stolz wie Bolle den Verwandten aus Erfurt das Gelände zeigen, als ihr Ding." Momente später sprintet er los. Showtime.

Schräg gegenüber, oberhalb der Künstlerpension "Meisterzimmer", hat das Atelierprogramm LIA seinen Sitz. Die Hallenflucht mit separaten Räumen für die Künstler ist so besenrein, als würde jeden Moment ein Galerist mit diesen kleinen roten Punkten um sich werfen, die bei Vernissagen als "Verkauft!"-Signale gelten. Auf einem Rollwagen stapeln sich bemalte Leinwände wie Billy-Rohlinge bei Ikea. Hier gilt's der Kunst. Aber auch der Kunst der Vermarktung. Galeristin Anna-Louise Kratzsch empfängt Besucher mit einer hart eingestellten Dusche aus Informationen und Anekdoten über ihre Schützlinge. An der Eingangstür steht: "Hauptsponsor BMW Werk Leipzig". Berührungsängste? Wieso das denn?

Aus dem Atelier eines Spaniers kommt nicht nur der junge Mann aus Barcelona, sondern auch dessen Eltern. Die Mutter schleppt eine Nähmaschine. Der Junge soll gut aussehen an seinem großen Tag. Dem Sohn scheint das nicht so recht, aber was soll man machen.

Einen Raum weiter haben sich zwei japanische Performance-Künstler eingemietet. Auf einer Videowand läuft ein Film, in dem die beiden 1000-mal zu erraten versuchen, was der andere denkt, und das dann zeichnen. Sehr versiert erwähnt die Galeristin, dass auch Neo Rauch schon mal für Atelierkritik vorbeischauen würde. Irgendwo auf dem Gelände hat er seit 1993 sein Atelier. Damals wurde hier noch Garn gesponnen. Rauch hat gewissermaßen eigenhändig dafür gesorgt, dass aus der Mundpropaganda für dieses Künstler-Sammelbecken ein Standortfaktor für Leipzig wurde. Seitdem ist er eine Art Schutzpatron. Rauch war es auch, der über seine Freundschaft zum Hamburger Künstler Daniel Richter dafür sorgte, dass Leipzig im letzten September auf Kosten Hamburgs Schlagzeilen machen konnte. Bei einem Gespräch von Spinnerei-Chef Schultze mit dem Leipziger Baubürgermeister Martin zur Nedden über die Gängeviertel-Besetzung entstand die Idee, Hamburger Künstlern eine Art Asyl-Angebot zu machen. Der Chef des Leipziger Porsche-Werks, der seinen Kunden nach Abholung des neuen Flitzers gern eine Tour zur Spinnerei anbietet, kommentierte diesen PR-Coup später als "typisch Leipziger Schachzug". Damals reisten einige Hamburger Künstler zur Aufnahme freundlicher diplomatischer Beziehungen nach Leipzig, man kam sich näher, kam aber noch nicht. Jetzt also das Wiedersehen, bei dem beide Leipziger viel Klartext über die Rolle von Künstlern sprechen: Zur Nedden betont, "dass wir diese Akteure auch ganz stark als Partner in der Stadtentwicklung brauchen". Schultze legt einen Finger zielsicher in eine offene Wunde: "Eine Stadt, die sich den Bau einer gigantischen Elbphilharmonie leistet, die immer teurer wird, kann sich ja vielleicht auch leisten, eine andere Attraktion im künstlerischen Bereich anzusiedeln, die basisorientierter ist." Auch auf die Frage, was Hamburg von Leipzig lernen könne, hat Schultze sofort eine Antwort parat: "Vielleicht sollte man etwas mehr über Heimatbildung nachdenken und darüber, wie man die Leute hält, die man hat. Letztendlich müsste Hamburg sich wahrscheinlich auch Künstler leisten wollen. Hamburg müsste Künstler endlich mit billigem Lebens- und Arbeitsraum sponsern, ob als Kauf oder als Miete. Und wenn der Wille da ist, ist auch fast immer ein Budget dafür da."

Ein Herzstück des Spinnerei-Areals ist die Halle 14. Fünf Etagen mit jeweils 4000 Quadratmetern freier Fläche, auf jeder Etage hätte also das komplette Gängeviertel Platz. Das Dach bietet einen Panoramablick über die Stadt. Hier war es, wo der Oberbürgermeister den Spinnerei-Chef bei einer Sommerfeier wissen ließ, dieser habe ihn von einem stadtplanerischen Problem befreit. Lybkes Kommentar dazu: "Es ist so toll, dass hier selbst die Politiker coole Typen sind."

Für die Gängeviertler ist vieles aus der Spinnerei und den Wächterhäusern "vorbildhaft". Ebeling: "Das ist aus eigener Idee entstanden, ein super Konzept, das Zeit hat, sich zu entwickeln. Und mit den Wächterhäusern hat man hier die Stadt zum Umdenken bewegt - das ist mit der Entwicklung im Gängeviertel vergleichbar, man kann nur hoffen, dass Hamburg flexibler wird."

Die Mitbringsel aus Leipzig können sich sehen lassen: Erstens wurde das Gängeviertel auf das Podium in der Halle 14 zu einer Diskussion um Stadtteilentwicklung eingeladen. Zweitens plant der Verein HausHalten mit der Hamburger Künstler-Initiative in einem der Wächterhäuser ein gemeinsames Projekt. Ein bis zwei Monate wollen die Hamburger damit nach Leipzig gehen. Und man merkt, welchen Spaß die Idee macht, dort ein klitzekleines Gängeviertelchen vorzeigen zu können.

Das letzte Wort zum Thema Gängeviertel kann nur Lybke haben. Hamburgs Ruf habe sich durch den jüngsten Umgang mit den Ereignissen dort nicht verbessert, findet er, mit schelmisch funkelnden Augen. Im Gegenteil. "Eine Stadt, die ihre Künstler weggehen lässt, wo kommen wir denn da hin?", dröhnt er, "ihr seid die Stadt, die ihre Künstler raushauen wollte. Das ist nicht mit so'm kleenen Ankauf wettgemacht. Da muss jetzt mal Butter bei die Fische, und zwar stetig."