Er werde am Wasser leben und erfolgreich mit einem Kind sein, war Modezar Wolfgang Joop 1994 vorausgesagt worden.

Es war an der Zeit, etwas zu verändern, zu sortieren. Die anderen Talente frei laufen zu lassen. Denn das Modetalent musste erst einmal ruhen. Drei Jahre Fashionverbot waren Teil des endgültigen Trennungsvertrages von Wolfgang Joop mit der Wünsche AG. Was also? Potsdam, Hamburg, New York, Monte Carlo? Filme drehen? Kinderbücher, Kochbücher, Romane, Artikel schreiben? Bildhauerei? Politik? Dozieren? Am besten alles, zunächst. Nur Hamburg gar nicht mehr.

Die Enttäuschung Anfang der 90er über das andere Potsdam, das die Magie des kindlichen Geborgenseins und des adoleszenten Unerreichbaren verloren hatte, war nicht von konsequenter Dauer. Die Eltern lebten noch in Braunschweig, doch der alte Traum, in Bornstedt wieder zusammenzuziehen, wollte verwirklicht werden. Aber es war auch eine abgestandene Fantasie, die sie in den 70er-, 80er-Jahren entwickelt hatten, oh, wenn dann mal die Mauer fallen sollte ..., dann zieht die Familie wieder an den Ort, wo sie herkam. Ja, aber die Familie war gar nicht mehr da. Und die Zeit war anders geworden. Und der Ort war auch anders. Renoviert wurde Bornstedt trotzdem.

Wolfgang wollte nicht mehr an den Ort zurück, aber ein Haus in Potsdam sollte es schon sein. Die Villa Hagen vielleicht, die Villa Mendelssohn? Wie wäre es mit der Big-Villa, dem klassizistischen weißen Gebäude direkt am Heiligen See, in dem der aufrechte Widerstandskämpfer Ulrich von Hassel bis zu seiner Hinrichtung gelebt hatte. Das nach der Wende als mietbarer Veranstaltungsort mit einem faszinierenden Blick und befremdlichem Toilettenmengen auch Wolfgang und Edwin Lemberg beeindruckt hatte. Und Mitte der 90er vom Bundesvermögensamt schließlich zum Kauf ausgeschrieben wurde. Mit der Auflage versehen, ein Nutzungskonzept abzugeben, einschließlich Arbeitsplatzgarantie für zehn bis 15 Mitarbeiter für fünf Jahre.

Wolfgang und Edwin setzten sich gegen 17 Mitbewerber durch. Sie hatten ein Konzept: Wunderkind-Art. Genau genommen war es kein Konzept, sondern eine Idee. Die für das Haus konkretisiert wurde. Eine Prophezeiung wollte erfüllt werden. 1994 hatte eine Wahrsagerin - und Wolfgang hält viel von Wahrsagerinnen - in der New Yorker Westside ihm vorhergesagt, dass er eines Tages am Wasser wohnen und sehr erfolgreich sein werde mit einem Kind. Damals hatte er sich keinen Reim darauf machen können. Den Namen zum Konzept hatte er schon, der hatte sich Jahre zuvor beim Lesen einer Geschichte förmlich aufgedrängt: Wunderkind. Aus dem Geld der verkauften Firmenanteile erwarb Wolfgang 1998 das ehemals Von-Hassel'sche-Haus, renovierte es komplett und gab ihm als "Villa Wunderkind" seine Würde zurück. Unbewusst hatte er endlich Anker geworfen.

Wir gehen mit diesem Wunderkind auf dünnem Eis. Aber Wunderkind heißt ja nicht umsonst Wunderkind. Oft genug hab ich die alten Bilder vom Vater mit seinem Kind vor Augen, Erlkönig, ich trage dieses Kind auf meinen Armen und muss sehen, dass es lebend da drüben ankommt. Ich erlaube mir Düsteres in meiner Kreativität, weil das Düstere ein wunderbares Gewürz ist. Gerade in der Mode, wo vieles eben so oberflächlich und kitschig und trashy wirkt, gerade heute, wo auch alles so schnell verbraucht ist, weil man es ja in der Sekunde auch alles schon gesehen hat ... Ich fühle ein ungeheures kreatives Potenzial, aber dazu kommt eben auch das bewusste Gelebthaben, das bewusste Hingesehenhaben, nicht immer nur vertuschen und Make-up auflegen, was viele Leute gut können.

Ende 2001 waren das Ausrufezeichen und alle damit verbundene Aufdringlichkeit und Vermassung - auch des Menschen Joop - schließlich weg. Endgültig verkauft. Der Beginn des Absichtslosen. Lange hatte Wolfgang gegen sich gelebt: im Westen statt im Osten, kommerziell gearbeitet und Erfolg gehabt, obwohl er als Künstler anerkannt werden wollte, die Familie verlassen, obwohl er ein so ausgeprägter Familienmensch ist. Es wurde Zeit nachzuholen. Am 4. Juli 2003, zufällig (?) der amerikanische Unabhängigkeitstag, wurde Wunderkind in Potsdam aus der Taufe gehoben. Ein Modehaus für ein neues Jahrtausend, gleichwohl nach bester Pariser Tradition. Kreation, Manufaktur, Kommunikation und Design - alles unter einem Dach. Das Einzige seiner Art in Deutschland. Wolfgang und Edwin gaben dem Namen, der ursprünglich für verschiedene künstlerische Projekte stehen sollte, eine Gestalt.

Wir hatten kein Netzwerk. Wir hatten keine Infrastruktur wie in Italien oder in Amerika. In New York kannst du nach Chinatown gehen und schnell eine Kollektion mustern lassen. Wo kriege ich in Potsdam eine Näherin her? Bei Wunderkind musste ich alles wieder neu aufbauen. Das ist sehr mühsam. Ich habe keinen Konzern hinter mir, keinen kreischenden Berater und Scouts vor mir, nur einen Finanzpartner neben mir, bin im Grunde allein auf meine Talente und Instinkte gestellt. Leiste mir den Luxus, meine Fehler selbst zu machen.

Die Idee war eine äußerst exklusive Damenmode mit einem intelligenten Twist, mit dem Charme der Manufaktur, weg vom industriellen Luxusversprechen. Zunächst als abendliche Mode für Frauen - Männer mögen nicht als Statement rumlaufen - gedacht, perfektioniert in dem winzigen Raum zwischen Prêt-à-Porter de luxe und Haute Couture. Exzentrisch und sophisticated. Exzentrik ist zeitlos, zweckfrei, setzt nicht auf Schockeffekte um jeden Preis, der wahre Luxus liegt vielmehr in Selbstverständlichkeit und Nachlässigkeit. Sein Wunderkind folgt keinem festgelegten Stil, keiner Unterscheidung in Tag und Nacht, in Büro und Arbeit, in alt und jung, in korrekt und sexy. Wunderkind steht für sich, für jede Zeit, für durch und durch gebildete Fantasie. Und ist damit unverwechselbar und einzigartig und zugleich zeitlos und international verständlich. Aber Wunderkind ist niemals "wie", nicht wie Chanel oder wie Hermès, auch nicht wie Gucci, sondern eben immer Wunderkind. Es unterwirft sich nicht vermeintlichen modischen Vorgaben und gerät so auch nicht, wie viele Luxusmarken, in Abhängigkeiten von Trends. Wunderkind setzt selbst Trends.

Es war das Erste, was ich mit Edwin wirklich zusammen gemacht habe als Partner. Edwin war ja vorher kein Geschäftspartner gewesen, er war nur mein Partner. Und auf einmal ging es tatsächlich los. Ich hatte ein paar Entwürfe gemacht, und als ich aus New York zurückkam, waren die Sachen fertig. Eine Journalistin schrieb positiv darüber, was mir so ein Trostpflaster auf meine doch verwundete Seele war.

Zu den Gaben von Wolfgang gehört die Fähigkeit, Veränderungen in Umfeld und Gesellschaft seismografisch aufzuspüren, und bevor sie allgemein greifbar werden, hat er die Schwingungen längst in seine Entwürfe einziehen lassen. Wunderkind entsteht eben nicht reaktiv auf den Markt, sondern entwirft Begehren, von denen die Menschen erst angesichts der Kollektionen ahnen, dass sie diese Wünsche haben. Verarbeitung und Konstruktion sind von Aufwand und Komplexität der Haute Couture ebenbürtig einzustufen, alles wird an Hausmodellen geformt, gesteckt, entworfen. Getreu der Devise "Das Beste ist das Minimum". Eine Frau und inzwischen auch ein Mann, in Wunderkind, kommen vielleicht unbemerkt in den Raum. Aber man erinnert sich lange an sie.

Also, die jungen Leute, die können einen Filzhut nehmen, ihn schräg aufsetzen und das ist eine Aussage. Wunderkind muss mehr sein. Wunderkind muss ein bisschen von diesem Geist haben, aber dabei jene Individualität, die dir das Gefühl vermittelt, du steigst in ein Bild hinein und dass es dir gerade deswegen gefällt. Das ist für mich Wunderkind. Und vor allem, dass es einen Trostfaktor hat. Es gehört dir und zu dir.

Die erste Show fand im fast privaten Kreis im Atelier einer Potsdamer Villa statt. Ein erster Test, bei dem Wolfgang sich auch als Pionier fühlte, der die Brücke von den modischen Berliner 20er-Jahren in die Gegenwart schlug. Beim zweiten Mal versammelte sich die Gemeinde in der St.-Johannes-Evangelist-Kirche. Der Wundermann war zurück. Dachte, er müsste nach New York, in die vertraute Stadt, zurückkehren und sein Kind dort vorstellen auf der Fashion Week, weil es ja ein internationales Kind war. Sie feierten ihn, aber so richtig verstanden die pragmatischen amerikanischen Modeleute die von europäisch-preußischer Bildung getränkte Fantasie ihres Darlings nicht. Da kam die Einladung des Syndicat de Paris de la mode féminine, an den Schauen in Paris teilzunehmen, gerade recht. Das Wunderkind hat seine Bühne gefunden. Und die Welt applaudiert.

Ende

Am Freitag, den 6. November, um 20.15 Uhr lesen Wolfgang Joop und seine Biografin Inga Griese in der Thalia-Buchhandlung, Große Bleichen 19, aus dem Buch "Wolfgang Joop - Wunderkind. 14467 Potsdam". Anmeldungen unter Tel. 040/48 50 20. Eintritt 8 Euro (Sitzplatz), 5 Euro (Stehplatz).