Sam Gabarskis “Vertraute Fremde“ spielt durch, was wäre, wenn sich verpasste Chancen doch noch nutzen ließen

Wer hat nicht schon mal davon geträumt, in die eigene Vergangenheit zurückzureisen, um einst verpasste Chancen doch noch zu nutzen? Mit dem Wissen und dem Selbstbewusstsein von heute den Schwarm von damals ansprechen, dem Leben im Nachhinein eine andere Richtung geben, mit der Vergangenheit auch die Gegenwart zurechtrücken, nichts mehr bedauern oder bereuen müssen - kurzum: Was wäre gewesen, wenn...?

Im Kino, dieser Illusionsmaschine, lassen sich solche Gedankenspiele problemlos durchspielen, vielleicht als Zeitreise oder Traum. In "Vertraute Fremde" beginnt es damit, dass der 50-jährige Pariser Comic-Zeichner Thomas (Pascal Greggory) lustlos mit dem Zug auf eine Comicmesse in der Provinz fährt, wo man ihm einen Katzentisch zugewiesen hat. Seine großen Zeiten als Zeichner sind längst vorbei. Auf der Rückfahrt nimmt Thomas versehentlich den falschen Zug und findet sich in seinem Geburtsort wieder. Viel zu lange schon war er nicht mehr hier. Als er das Grab seiner Mutter besucht, fällt er - so scheint es - in Ohnmacht, nur um kurz darauf als 14-Jähriger (nun dargestellt von Léo Legrand) in den sechziger Jahren wieder aufzuwachen.

Zunächst hat Thomas Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Doch dann erkennt er sie wieder, seine Freunde und Nachbarn, die Lehrer und die schöne Klassenkameradin Sylvie (Laura Martin), die er nie anzusprechen wagte. Sein Vater Bruno (Jonathan Zaccai) betreibt gleich neben der Wohnung eine Schneiderei, Anna (Alexandra Maria Lara), die Mutter, führt klaglos den Haushalt. Sie schaut stets ein wenig wehleidig drein - so als ahnte sie, dass Bruno, der beste Freund ihres im Krieg gefallenen Mannes, sie nur aus Pflichtgefühl geheiratet hat. Umso mehr freut sie sich, dass Thomas auf einmal so aufmerksam ist. Der Grund: Er weiß, dass sein Vater die Familie an seinem 40. Geburtstag wortlos verlässt. Ein Ereignis, an dem Anna zerbrechen wird. Für Thomas ist der Fall klar: Er muss mit allen Mitteln verhindern, dass sein Vater noch einmal spurlos verschwindet.

Der neue Film von Sam Gabarski ("Irina Palm") beruht auf einem Manga von Jiro Taniguchi. Doch keine Angst: "Vertraute Fremde" ist keine Comic-Verfilmung im eigentlichen Sinn, auch wenn die Beschreibung der 60er-Jahre in der französischen Provinz etwas eigentümlich Traumhaftes hat. Eine sehr hermetische Welt, die mitunter leblos und statisch, fast irreal wirkt. Von Japan nach Frankreich - die Verpflanzung der Geschichte mag zunächst unstimmig erscheinen. Und doch macht sie Sinn. Denn die Frage, wie man leben soll, welche Entscheidungen man trifft und ob man zu diesen Entscheidungen steht, ist universell. Würde man überhaupt etwas ändern wollen? Mit solchen Fragen verlässt man angeregt das Kino. Und das ist das Beste, was sich über einen Film sagen lässt.

++++- Vertraute Fremde Belg./Lux./ Frkr./Dtl. 2010, 98 Min., o. A., R: Sam Gabarski, D: Léo Legrand, Pascal Greggory, Alexandra Maria Lara, täglich im Holi, Koralle; www.vertrautefremde.x-verleih.de