Schon im Alter von viereinhalb Jahren werden Hamburgs Jungen und Mädchen auf ihre sprachlichen Fertigkeiten getestet.

Hamburg. Die Zahlen haben Anfang der Woche auch die Hamburger Schullandschaft aufgeschreckt. Nach einer Studie der Universität Hamburg sind 7,5 Millionen Deutsche im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sogenannte funktionale Analphabeten. Diese Menschen können einzelne Sätze, aber keine zusammenhängenden Texte schreiben.

Aus der Studie der Hamburger Professorin für Erwachsenenbildung, Anke Grotlüschen, und ihrer Kieler Kollegin Wibke Riekmann lässt sich auch schließen: In Hamburg ist jeder siebte Erwachsene Analphabet. 80 Prozent von ihnen haben Haupt- oder Realschulabschluss, einige sogar das Abitur. Was die Frage aufwirft: Wie kann ein Mensch neun oder auch 13 Jahre zur Schule gehen, ohne im Anschluss alltagstauglich lesen und schreiben zu können?

Äußere Zwänge seien eine Erklärung: "Auflagen wie die Senkung der Schulabbrecherquote führen vermutlich oft zur Versetzung aus pädagogischen Gründen", sagt Anke Grotlüschen. Das bedeute etwa, bei bekanntermaßen schwierigen Familienverhältnissen werde dem Schüler der Lebensweg nicht durch das Verwehren eines Schulabschlusses verbaut. Hinzu komme, dass es bundesweit nicht ausreichend Schultests zur Entdeckung der Probleme gebe.

Rainer Griep, Leiter der Stadtteilschule Eppendorf, sieht das anders. "Einen Schulabschluss, ohne dass der Schüler die Grundfertigkeiten des Schreibens und Lesens beherrscht, gibt es nicht." Das bestätigt Karin Leky, seit 30 Jahren im Hamburger Schuldienst: "Ich kenne kein Kind, das als Analphabet die Schule mit Abschluss verlassen hat", sagt die Sprachkoordinatorin an der Schule an der Seebek in Bramfeld. "Aber es gibt Menschen, die das Schreiben und Lesen nach ihrer Schulzeit weitgehend verlernen." Ausgangssituation für jede Form des Analphabetismus sei eine Lese- und Rechtschreibschwäche. Im Hamburger Schulsystem sei das Netz für solche Kinder sehr eng geknüpft. "Theoretisch kann da niemand durchfallen."

Schon im Alter von viereinhalb Jahren werden Hamburgs Jungen und Mädchen auf ihre sprachlichen Fertigkeiten getestet und bei Bedarf vor der Einschulung gefördert. In der vierjährigen Grundschule testen die Pädagogen mindestens einmal im Schuljahr mit verschiedenen standardisierten kleinen Tests die Sprach- und Lesefähigkeiten. "Kinder mit Defiziten erhalten eine Sprachförderung während des Unterrichts am Vormittag und zusätzlich in kleinen Gruppen am Nachmittag", sagt Karin Leky. Übungen und Förderungen setzen sich in der Sekundarstufe fort, sodass mit dem Schulabschluss die Kinder vielleicht nicht als Sprachkünstler ins Leben entlassen werden, aber mit ausreichender Lese- und Schreibkompetenz.

Professor Rainer Lehmann von der Humboldt-Universität Berlin ist Leiter der Längsschnittstudie "AlphaPanel", während derer Teilnehmer von Alphabetisierungskursen an Volkshochschulen befragt wurden. Demnach konnten Analphabeten während der Schulzeit zwar schlecht, aber doch hinreichend lesen und schreiben, um einfache Aufgabenstellungen zu erfüllen. "In der Wissenschaft gibt es den Verdacht, dass diese Fähigkeit nach Verlassen der Schule verkümmert, wenn sie nicht gepflegt wird." Zwar gebe es zum Verlernen des Lesens und Schreibens nach der Schule keine soliden Daten, aber bei absoluter Schriftenthaltung sei das laut Lehmann durchaus denkbar.

Wichtig sei, in den Schulen den Förderbedarf bei Kindern zu erkennen. Schwierig dagegen sei die Frage, wie gefördert werden solle. Bei einer festgestellten Minderbegabung sei ein Wechsel an eine Förderschule durchaus sinnvoll, sagt Leky. Die führt allerdings die Kinder nicht zwingend zum Schulabschluss.

"Unser Ziel ist es, ab der neunten Klasse kein Kind aus der Schule zu entlassen, das nicht lesen und schreiben kann", sagt Karin Leky. Bei sogenannten Seiteneinsteigern gestalte es sich allerdings schwierig, dieses Ziel zu erreichen. "Wenn ein Kind in der achten Klasse aus Afghanistan zu uns kommt und dort nie zur Schule gegangen ist, dann ist es nahezu unmöglich, dieses Ziel zu erreichen."

Was Karin Leky nach 30 Jahren als Lehrerin mit Sicherheit sagen kann: "Die allgemeine Lesekompetenz der Kinder nimmt merklich ab." Das zeige sich schon im sogenannten Stolperwörtertest, den die Kinder regelmäßig ab Klasse 2 absolvierten. Der Grund: In den Elternhäusern wird - unabhängig vom Bildungsniveau - immer weniger mit den Kindern gelesen.