Mehr als 40 Männer und Frauen besuchen die Alphabetisierungskurse der VHS Norderstedt. Sie holen nach, was sie als Kinder versäumt haben

Norderstedt. Sein Vater konnte nicht lesen und schreiben. Und auch Rainer kennt sich nicht aus in der Welt der Buchstaben. Der 46-Jährige war das jüngste von sechs Kindern und ist irgendwie aus dem Betreuungs- und Bildungsprozess herausgefallen. "Meine älteren Geschwister können alle lesen und schreiben", sagt der Kaltenkirchener. Er ist "funktionaler Analphabet". So nennen die Fachleute die Menschen, die nur bruchstückhaft lesen und schreiben können.

Rainer geht offen mit seinem Schicksal um, möchte aber wie die anderen, die sich in den Alphabetisierungskursen der Volkshochschule Norderstedt im Formulieren und in der Rechtschreibung üben, anonym bleiben. Nach der sechsten Klasse hat Rainer die Sonderschule ohne Abschluss verlassen, eine Lehre als Steinsetzer begonnen. "Praktisch war ich gut, nur bin ich dreimal durch die theoretische Prüfung gefallen", sagt er. In der Berufsschule seien seine Wissenslücken nicht aufgefallen, er habe gute Nachbarn gehabt.

Wie fast alle seiner Schicksalsgenossen hat Rainer immer gearbeitet. Doch als er den Staplerschein machen sollte, hat er dem Chef klar gesagt, was er nicht kann. "Ich dachte, nun fliege ich raus", sagt der Familienvater. Doch stattdessen hat ihn der Chef zur Volkshochschule geschickt und bezahlt das Lernen sogar.

Petra, 49, schummelte sich durch die Sonderschule

Und auch zu Hause muss er ran an die Buchstaben. "Meine Frau triezt mich immer", sagt Rainer und lacht. Sie gibt ihm einen Einkaufszettel mit, lässt ihn das TV-Programm vorlesen und fragt scheinheilig, ob im Werbeprospekt Schweinerücken oder -nacken angeboten wird. "Das ist natürlich optimal, denn die paar Stunden Unterricht in der Woche reichen eigentlich nicht aus", sagt Liane Hockling, bei der VHS für die Alphabetisierung zuständig.

Petra hat ebenfalls einen Mann, der sie unterstützt. Auch die 49-Jährige hat eine typische Karriere hinter sich. Ihre Mutter war Jugoslawin, konnte zwar lesen, aber nicht schreiben. Der Vater konnte beides, doch die Eltern hatten sich getrennt, und der Vater lebte woanders. Die Tochter schummelte sich durch die Sonderschule, blieb in der zweiten Klasse sitzen, wechselte viermal durch Umzug die Schule, verschanzte sich ganz hinten im Klassenraum hinter zwei dicken Mitschülern, malte Bilder, wenn Aufsätze gefordert waren - die Diktate wimmelten von Fehlern.

Lesen lernte sie als 13-Jährige mit der "Bravo". Alle sprachen über die Kultzeitschrift der Jugendlichen, auch Petra wollte das Leben der Pop-Stars kennen, wissen, was "Dr. Sommer" zum Thema Sex zu sagen hatte. "Ich habe mir das Lesen selbst beigebracht", sagt Petra stolz. "Das zeigt, dass die Betroffenen durchaus etwas gelernt haben und mehr, als sie meist selbst denken. Doch durch fehlende Übung sind die Kenntnisse und Fertigkeiten im Laufe der Zeit verschüttet worden", sagt Liane Hockling. In den Kursen würden die Schätze wieder gehoben.

Petra verließ mit 16 die Schule, blieb zu Hause bei der Mutter, die sie abschirmte und sich an sie klammerte. Mit 22 hatte sie ihren ersten Freund, der erledigte die Schreibarbeiten, begleitete Petra zur Behörde, füllte Formulare aus. Die Hilfe anderer, Schreibkundiger, ist ein Trick, mit dem Analphabeten ihre Schwäche verbergen.

Doch das funktioniert nicht immer: Petra hatte einen Job als Haushaltshilfe und sollte einem Kunden, der nie zu erreichen war, einen Zettel an die Tür heften, dass er sich melden soll. "Ich wusste, wann er das Haus verlässt, habe vor der Tür gewartet und ihm das dann erzählt", sagt die Norderstedterin. Kräftig ins Schwitzen kam sie, als sie im Büro der Chefin eine Krankmeldung ausfüllen sollte. "Ich habe meine Brille nicht dabei", lautete die Ausrede. Und als Petra anfing, irgendwelche Buchstaben in eine Zeile des Dokuments zu krakeln, verlor die Chefin die Geduld. "Geben Sie mal her, ich mach das schon", habe sie gesagt und ihrer Mitarbeiterin damit einen ganzen Felsen vom Herzen genommen.

"Ich habe zwar zu Hause mit meinem Mann geübt, aber das hat nicht so richtig geklappt", sagt Petra. Da sie aber nun unbedingt schreiben lernen wollte, hat sie bei der VHS angerufen. Seit drei Jahren kommt sie einmal in der Woche zum Unterricht und hat dabei festgestellt, dass sie auch beim Sprechen Fehler macht. "Ollostrierte" statt "Illustrierte" habe sie immer gesagt, und ausgerechnet den Namen ihres Arbeitgebers, der Diakonie, wollte ihr Mund nicht formen. Liane Hockling half, zerlegte das Wort in Silben, die Petra im Rhythmus gehen und dabei sprechen sollte. "Es geht nicht nur um bloßes Imitieren oder Auswendiglernen, sondern darum, den Kursusteilnehmern beispielsweise Lautunterschiede bewusst zu machen", sagt die Kursusleiterin. Die Teilnehmer sollen mit möglichst vielen Sinnen und ganzheitlich lernen, sich selbst und ihre Umgebung wahrzunehmen. Da lautet die Hausaufgabe dann auch schon mal, Straßenschilder zu lesen und sich einzuprägen, wie "Straße" geschrieben wird.

Im Vordergrund steht die individuelle Hilfe. So brachte eine Teilnehmerin E-Mails aus dem Betrieb mit, sie wurden mit der Leiterin bearbeitet. Liane Hockling hat Schreibkärtchen mit den sich wiederholenden Formulierungen erstellt, sodass die Betroffene zu Hause gezielt üben und ihren Arbeitsplatz sichern konnte.

Gelernt wird ähnlich wie in der Grundschule. Grammatik spielt eine eher untergeordnete Rolle, wird aber bei Bedarf auch gezielt trainiert. Der Unterricht zielt auf die Anwendung im Alltag und darauf, das Selbstbewusstsein der Analphabeten zu stärken. Sie sollen so selbstverständlich wie alle anderen nach einem Duden fragen und dort nachschlagen.

Wer jetzt neugierig geworden ist und lesen und schreiben lernen will, muss sich erst beraten und einstufen lassen. Auskunft gibt Liane Hockling unter der Telefonnummer 040/525 79 16.