Unbekannte Täter erstechen den 19 Jahre alten Mel im S-Bahnhof Jungfernstieg. Ein nichtiger Streit soll der Auslöser der Bluttat gewesen sein.

Hamburg. Das Messer hat sie alle getroffen. Mandy und Dennis, Christiane und Veronika. Die Jungs in ihren Trainingshosen und den weißen Schuhen. Die Mädchen mit den langen Haaren und engen Jeans. Sie halten sich umschlungen, fest. So, als könnten sie gemeinsam etwas gegen die Verzweiflung tun. Aufrecht stehen sie. Den Blick auf den weißen Pfeiler an Gleis 5 des U-Bahn-Tunnels Jungfernstieg geheftet, an dessen Fuß sie weiße Rosen und rote Kerzen niedergelegt haben. Darüber hängt das Foto von Mel. Und ein Abschiedsbrief: "Hier starb der liebste Mensch auf Erden. Wir wollten nur feiern gehen, und es endete in voller Trauer. Mel - wir werden dich nie vergessen!!!"

Mel und sein 17 Jahre alter Freund wollen am Freitagabend in eine Diskothek nach Wedel fahren. Sie sitzen auf einer Wartebank am S-Bahn-Steig Jungfernstieg und warten auf die S 1. Um 21.21 Uhr steigen fünf Jugendliche aus der S-Bahn Richtung Altona aus. Sie werden auf 17 bis 18 Jahre geschätzt. Die Täter sind zwischen 1,70 und 1,78 Meter groß und schlank. Einer von ihnen hat einen Irokesen-Haarschnitt. Ein anderer trägt eine Kapuzenjacke mit der weißen Aufschrift "G.S.Raw", eine angesagte Marke bei Jugendlichen. Sie haben es auf Streit abgesehen. Zunächst geht einer auf Mel und seinen Freund zu. Dann folgen die anderen. Der 17-Jährige wird der Polizei später sagen, dass es um eine Nichtigkeit geht. "Was guckst du", so in etwa. Nach einem kurzen Streit lassen die fünf zunächst von den beiden ab.

Sie gehen die Treppe hinab zum U-Bahn-Steig der Linie 2. Auch dort belästigen sie einen Mann, gehen dann zurück zum S-Bahn-Steig und erneut auf die beiden Freunde los. Die sieben Jugendlichen stehen umeinander herum. Plötzlich zieht einer der Angreifer ein Messer und sticht Mel in die Brust. Der 19-Jährige schleppt sich schwer verletzt zum U-Bahnhof. Dort bricht er vor den Augen seines Freundes zusammen. Verzweifelt versuchen die Notärzte, den Jugendlichen wiederzubeleben. Geschockte Fahrgäste sehen, wie die Retter auf Mels Brustkorb drücken. Immer wieder. Vergebens. Er stirbt auf den kalten Fliesen des Bahnsteigs.

Für die Polizei ist Mel ein Opfer von vielen. 19 Jahre alt, männlich. Für die Jugendlichen aus Horn ist er viel mehr. Mel, der fröhliche Junge, der "keiner Fliege was zuleide tun konnte". Der Mädchenschwarm mit den raspelkurzen Haaren und dem sinnlichen Mund. Mel, der leidenschaftlich gern Break Dance getanzt hat und regelmäßig zum Kickboxen ging. Der beste Freund. "Im Sommer haben wir fast täglich Fußball gespielt", sagt Dennis Haack, 25. "Mel und sein Zwillingsbruder waren fast immer dabei." Dennis' Mutter schüttelt verzweifelt den Kopf. "Was für ein Albtraum für die Eltern. Wenn sie in das Gesicht von Mels Bruder schauen und jeden Morgen das Spiegelbild ihres verstorbenen Sohnes sehen."

Die Überwachungskameras des Bahnhofs Jungfernstieg haben die Bluttat und die Angreifer aufgezeichnet. "Es sind ausgesprochen scharfe Bilder", sagt Polizeisprecher Holger Vehren. Die fünf Angreifer sind klar zu erkennen. "Wir sind sehr zuversichtlich, die Täter damit identifizieren zu können." Doch die Bilder dürfen noch nicht veröffentlicht werden. "Die Polizei muss laut Strafprozessordnung erst alle Fahndungsmöglichkeiten ausschöpfen", erklärt Vehren. Die Bilder aus der Überwachungskamera werden zunächst an alle Wachen ausgegeben. Möglicherweise sind die Täter bereits bekannt. Noch ermitteln die Fahnder, wo die Angreifer in die S-Bahn eingestiegen sind. Auch das werden die Kameras eingefangen haben. Auch Spuren wie Fasern und Fingerabdrücke werden ausgewertet. "Erst wenn das nicht weiterhilft, kann die Staatsanwaltschaft einen Beschluss zur Veröffentlichung der Bilder beantragen", sagt Polizeisprecher Vehren.

Dennis, Mandy und Veronika wollen die Fahndung nicht allein der Polizei überlassen. Sie müssen etwas tun, damit sie die Situation aushalten, damit sie nicht verrückt werden. Sie haben die Fahndungsdaten der Polizei kopiert. Jetzt stehen sie an der U-Bahn-Haltestelle und verteilen die Zettel mit Täterbeschreibung und Telefonnummer der Polizei an die Fahrgäste. Wer etwas gesehen hat, soll sich unter 428 65 67 89 melden. Die Jugendlichen hoffen, dass Zeugen anrufen. Die Täterbeschreibung erzählt von Jungs, mit denen sie die Schulbank hätten teilen können. Sie tragen die gleichen Klamotten wie sie, Kapuzenshirts und Jeans, sie haben kurze Haare und das gleiche Alter wie sie. Und doch sind sie so gänzlich anders. "Der Täter hat ein Menschenleben ausgelöscht", sagt Nachbarin Christiane Schilling. "Und jetzt sitzt er zu Hause und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein. Wir aber müssen mit dem Tod von Mel leben." Christiane Schilling ist selbst Mutter von zwei Kindern.

+++ SO KRIMINELL IST IHR STADTTEIL +++

Ihre Tochter ist 20 Jahre alt - und war mit Mel eng befreundet. Da steht sie nun. Das Gesicht ganz verquollen vom Weinen. Tränen liefen über ihre Sommersprossen. Eine junge Frau, deren behütetes Leben durch einen Messerstich zerschnitten worden ist. "Mel war mein Freund", sagt sie. "Ich kenne ihn noch aus der Sandkiste. Wir haben als Kinder oft miteinander gespielt, waren zusammen in der Kinderdisco." Zu Veronikas 8. Geburtstag schenkte Mel ihr einen Herzring. "Er war der erste Junge, für den ich mich interessiert habe", sagt sie. Dann versagt ihre Stimme.

Deutliche Worte hingegen findet SPD-Innenexperte Andreas Dressel. "Hamburg verzeichnet mit einem Anstieg aller Gewaltdelikte von 8,2 Prozent im vergangenen Jahr den deutlichsten Anstieg aller Bundesländer." Sein Kontrahent, Innensenator Christoph Ahlhaus (CDU), wehrt die Kritik der Opposition an der "hervorragenden Arbeit der Polizei" ab. Schwere Gewaltstraftaten wie Tötungsdelikte, Vergewaltigungen sowie die Raubstraftaten seien 2009 zurückgegangen.

Die Jugendlichen interessiert eine solche Debatte nicht. Für sie geht es nicht um Zahlen, sondern um einen Menschen. Am Nachmittag löst sich die Gruppe an der Unglücksstelle auf. Sie fahren zurück mit der Linie U 2 zur Horner Rennbahn. Es ist die Linie, die auch Mel am Freitagabend genommen hat. Er wollte mit seinem Freund am Bahngleis der S 1 auf Mandy und die anderen warten. "Wir hatten uns noch was zu trinken geholt und haben eine U-Bahn später genommen. Wir hatten vorgeschlagen, dass sie am Berliner Tor warten. Aber sie wollten uns schon am Jungfernstieg treffen." Als Mandy um 21.24 Uhr mit der U-Bahn einfährt, schleppt sich Mel die Treppe herunter. Kurz zuvor haben ihm die Täter ein Messer in den Körper gerammt.