Im Interview berichtet Diplom-Psychologe Michael Thiel wie es zu Gewaltausbrüchen bei Jugendlichen kommen kann.

Hamburg. Die Grundsteine für Gewaltbereitschaft jugendlicher Männer werden bereits in der Kindheit gelegt, sagt Diplom-Psychologe Michael Thiel. Umfeld und Erziehung spielen dabei eine große Rolle.

Hamburger Abendblatt:

Herr Thiel, werden junge Männer immer brutaler?

Michael Thiel:

Den Statistiken nach nimmt die Kriminalität unter Jugendlichen eher ab. Die Zahl der Angriffe ging in den letzten Jahren zurück. Gleichzeitig aber wird die Brutalität der Übergriffe immer größer.

Warum haben gerade junge Männer ein so großes Aggressionspotenzial?

Junge Männer haben schon im Ruhezustand ein größeres Aggressionspotenzial als Frauen. Bei männlichen Jugendlichen geht es zwischen 16 und 18 Jahren darum, sich mit ihrer sogenannten Männlichkeit auszuprobieren.

Welche Jugendlichen gelten als besonders gewaltbereit?

Bei denen, die in ihren Familien schon Gewalt erfahren haben, kann Aggressivität als legitimes Durchsetzungsverhalten gelten. Das gilt besonders für diejenigen, die ein schwaches soziales Umfeld haben, die wenig Perspektiven in Ausbildung oder Job besitzen. Wir wissen, dass ein inkonsistenter, also für den Jugendlichen unvorhersehbarer Erziehungsstil, Gewaltverhalten fördert. Auch auf das Einfühlungsvermögen haben die Eltern Einfluss. Erfährt ein Jugendlicher in seiner Kindheit von seinen Eltern wenig einfühlsames Verhalten und kann folglich seine Empathie nicht trainieren, kann er später dazu neigen, beispielsweise einen schon am Boden Liegenden weiter zu treten. Diese Jugendlichen spüren nicht, dass der andere leidet. Sie schlagen schlimmstenfalls bis zum Tod zu.

Warum suchen sie Streit in der Gruppe?

In einigen Cliquen ist ein brutales Verhalten eine Möglichkeit, in der Gruppenhierarchie aufzusteigen und dem Anführer zu zeigen, was für ein "vermeintlich" toller Kerl man doch ist.

Die Täter agieren völlig enthemmt? Warum stechen sie trotz Kameraüberwachung zu?

Sie kommen in eine Art Rausch, in der die verhaltenssteuernden Gehirnteile nicht mehr richtig reagieren. Diese Gewalttaten sind die primitivste Form, um sich zu behaupten, sich zu spüren und ein Gefühl von Macht zu bekommen. Wenn man sonst das Gefühl hat, der "Loser" in der Gesellschaft zu sein, kann man durch diese Brutalität sich vorübergehend als Gewinner fühlen. Das alles aber sind nur Erklärungsversuche, die aber auf gar keinen Fall diese Taten rechtfertigen können.