Bezirksamtsleiter Markus Schreiber räumt Versagen des Jugendamts im Fall Chantal ein, lehnt aber Rücktritt ab. Jugendhilfe soll reformiert werden.

Hamburg. Er klingt nach heiler Welt, nach einem Besuch bei einer intakten, liebevollen Familie. Mit der Realität hat der Vermerk vom 4. Januar 2012 jedoch nichts zu tun, den ein Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes des Bezirksamts Mitte in die Akte über Chantal und ihre Pflegefamilie einträgt. Weder ist die Rede davon, dass das elfjährige Mädchen, das zwölf Tage später an einer Methadon-Vergiftung stirbt, kein eigenes Bett hat, noch wird angedeutet, dass die Pflegeeltern ein Drogenproblem haben könnten. Stattdessen notiert der Sozialpädagoge, dass ihm Chantal und das zweite Pflegekind - das Enkelkind des rauschgiftsüchtigen Paares - bei seinem Routinebesuch ein Weihnachtsgedicht vorgetragen haben. Alles sei in Ordnung bei der Wilhelmsburger Familie. Etwas Negatives fällt dem Sozialpädagogen nicht auf - zumindest steht davon nichts in dem kurzen Aktenvermerk.

Auch für die vier anderen Mitarbeiter des Bezirksamts Mitte, die Kontakt zu der Pflegefamilie hatten, schien es offenbar keine Probleme zu geben. Beim vom Bezirksamt beauftragten Verbund sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) galten die 47 Jahre alte Mutter und ihr 51 Jahre alter Mann ebenfalls als geeignete Pflegeeltern. "Zu keiner Zeit unserer Beratung der Pflegeeltern sind uns bei ihnen Anhaltspunkte für einen Drogengebrauch oder einer Behandlung mit einem Substitut bekannt gewesen", heißt es in einer aktuellen Mitteilung des VSE.

+++ Endlich erste Konsequenzen +++

+++ Hamburger Pflegeeltern müssen zum Drogentest +++

+++CDU: Schreiber muss aus Untersuchungen aussteigen+++

+++ Chantal hatte nicht mal ein eigenes Bett +++

"Es sind gravierende Fehler gemacht worden", sagte Markus Schreiber (SPD), Leiter des Bezirksamts Mitte gestern dem Abendblatt. Der erste Fehler sei gewesen, dass die Pflegeeltern vom Jugendamt nicht erneut überprüft worden seien, als der Bezirk Harburg die Akte im März 2008 an das Bezirksamt Mitte übergeben habe. Zudem sei dem freien Träger VSE, dem die Begleitung und Beratung der Pflegefamilie übergeben worden sei, "zu viel geglaubt" worden. Ebenso wie den eigenen Mitarbeitern, die die Familie zu kennen glaubten. "Ich habe mich darauf verlassen, was die Mitarbeiter gesagt haben - das war ein Fehler", sagte Schreiber. Er habe inzwischen mehr als 100 Fotos der Vierzimmerwohnung der Familie gesehen. Dass niemand der Zustand der Wohnung und die wenigen Betten aufgefallen sind, verstehe er nicht. "Das ist Betriebsblindheit."

Gestern zog Schreiber erste personelle Konsequenzen: Er entband die Jugendamtsleiterin Pia Wolters von ihren Aufgaben. "Ich wollte mich bereits 2009 von ihr trennen", sagte Schreiber. Damals hatte der vermutliche Hungertod Lara-Mias die Stadt erschüttert. Doch weder der damalige Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) noch Detlef Scheele (SPD) im vergangenen Jahr hätten die für eine Versetzung notwendige Unterstützung gegeben, so Schreiber. Das habe sich erst nach dem Tod von Chantal geändert.

Am Abend sprach Christoph de Vries, familienpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion, Sozialsenator Detlef Scheele im Familienausschuss auf diesen Sachverhalt an. Scheele widersprach Schreibers Darstellung. Er habe mit dem Bezirksamtschef über die Versetzung von Wolters vor dem jüngsten Vorfall nicht geredet. Darüber hinaus ging Scheele auf die CDU-Forderung nach einem unabhängigen Sonderermittler im Fall Chantal ein. Noch sei das nicht zwingend notwendig. Er bat darum, die Auswertung der Innenrevision abzuwarten. "Sollten aber am Ende noch Fragen offen bleiben, wird man darüber reden müssen. Ich sage nicht für alle Tage Nein." Darüber werde dann möglicherweise in einer weiteren Sitzung des Familienausschusses befunden werden müssen.

Die Aussage von Pia Wolters vor dem Ausschuss zeigte, wie sehr sie in ihrem Amt überfordert gewesen sein muss. Auf die Frage, warum es ganze zehn Tage bis nach dem Tod Chantals dauerte, bis die Akten des Trägers vom Jugendamt angefordert wurden, antwortete sie: "Im Amt musste der Schock erst mal verarbeitet werden." Schreiber will künftig nicht mehr so stark auf freie Träger setzen. Diese hätten "ein wirtschaftliches Interesse". Das könne man ihnen zwar nicht vorwerfen. "Ob sie jedoch die richtige Lösung bei Dingen sind, die unter sozialen Aspekten stehen - das ist fraglich", sagte Schreiber. Er wolle nun "Strukturen verändern und Verbesserungen herbeiführen". "Das habe ich auch nach Lara-Mias Tod gut hingekriegt. Die Bezirksversammlung muss nun wissen, ob sie mir diese Aufgabe zutraut."

Jens Kerstan, Vorsitzender der GAL-Fraktion, sagte zu der Freistellung der Jugendamtsleiterin Pia Wolters: "Wenn es hier offenkundig um die Führungsverantwortung von Frau Wolters geht, dann stellt sich selbstverständlich auch die Frage nach der Führungsverantwortung des Bezirksamtsleiters selbst. Ein Befreiungsschlag für ihn ist dies nicht."