Ein Kind stirbt an einer Überdosis - weil niemand die Drogensucht der Pflegeeltern bemerkt haben will. Jetzt sind strengere Tests angedacht.

Hamburg. Der Tod der elf Jahre alten Chantal aus Wilhelmsburg hat in der Stadt Empörung und Fassungslosigkeit ausgelöst. Vor zwei Wochen starb das Mädchen an einer Methadon-Vergiftung. Viele Menschen in Hamburg und ganz Deutschland sind entsetzt - entsetzt, dass ein Jugendamt die Halbwaise zwei Drogensüchtigen anvertraut hat, die seit mehreren Jahren in einem Methadon-Programm behandelt werden. Und niemand will etwas davon mitbekommen haben. Jetzt ist das Kind tot, und die Mordkommission ermittelt gegen Chantals 47 Jahre alte Pflegemutter und ihren 51 Jahre alten Mann.

Bei dem Paar hatte die Polizei 32 Methadon-Tabletten gefunden. Woher die Elfjährige die tödliche Dosis des Heroin-Ersatzstoffs hatte, ist dennoch unklar. Die Pflegeeltern, denen inzwischen die beiden minderjährigen leiblichen Kinder sowie ein zweites Pflegekind weggenommen wurden, haben die Vierzimmerwohnung an der Fährstraße unterdessen verlassen. Ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist der Polizei bekannt.

Angesichts der Drogenvergangenheit ihrer Pflegeeltern und der schlechten Lebensumstände der Elfjährigen stehen das Bezirksamt Mitte und die Sozialbehörde weiter in der Kritik. Es stellen sich Fragen zum Versagen von Behörden und Betreuern.

Sind ärztliche Untersuchungen und Drogentests für Pflegeeltern keine Pflicht?

Nein. "Die Behörden würden den Pflegefamilien, die ehrenamtlich sehr verdienstvolle Arbeit leisten, damit großes Misstrauen signalisieren", sagt Nicole Serocka, Sprecherin der Sozialbehörde. Zudem habe es bislang keinen Anlass für Drogentests gegeben. Laut der Leitlinien zur Auswahl von Pflegeeltern sind die Bewerber in Hamburg lediglich verpflichtet, schriftlich zu erklären, dass sie keine ansteckenden oder meldepflichtigen Krankheiten haben.

Wie sieht es in anderen Städten aus?

In Berlin und Köln etwa müssen angehende Pflegeeltern und alle weiteren im Haushalt lebenden volljährigen Personen ein Gesundheitszeugnis vom Hausarzt ausstellen lassen. Geprüft wird, ob ansteckende oder lebensverkürzende, chronisch psychische oder Suchterkrankungen vorliegen. In Frankfurt werden sie von Medizinern des Gesundheitsamts untersucht, inklusive Blut- und Urintests.

Werden nach dem Tod Chantals nun Drogentests eingeführt?

Das ist vorstellbar, heißt es vonseiten der Sozialbehörde. "Die Familienbehörde wird gemeinsam mit der Gesundheitsbehörde klären, welche Maßnahmen erforderlich sind, um eine mögliche Drogenproblematik bei den Eltern auszuschließen", sagt Sozialsenator Detlef Scheele (SPD). Sofern die bestehenden Regelungen dafür nicht ausreichten, würden entsprechende Änderungsvorschläge umgesetzt.

Welche weiteren Konsequenzen will der Sozialsenator ziehen?

Alle Pflegefamilien sollen künftig gleichbehandelt werden. "Die Anforderungen, die Pflegefamilien in der Regel erfüllen müssen, müssen auch für Verwandte und Freunde des Kindes gelten, die das Kind bei sich aufnehmen wollen", sagt Scheele. Geprüft werden soll auch, "ob die Verantwortung zwischen Allgemeinem Sozialen Dienst, freien Trägern und Vormündern ausreichend klar geregelt ist".

Wie erklärt der Verbund sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE), dass seine Mitarbeiter Chantal einem drogensüchtigen Paar anvertraut haben? Zudem ist der Pflegevater wegen Raubes und Drogenhandels vorbestraft.

Die freie Trägerorganisation teilte am Freitag mit, sich "aus Gründen des Datenschutzes und der beruflichen Schweigepflicht der Mitarbeiter" zu Einzelheiten nicht äußern zu dürfen. Weiter heißt es: "Der VSE Hamburg hatte im Rahmen seiner vertraglichen Vereinbarung mit dem Bezirk Mitte seit Juni 2008 regelmäßigen Kontakt zur Pflegefamilie, zum Pflegekind als auch zu den Mitarbeitern des Jugendamts." Jedoch betont der VSE, dass er - anders als das Bezirksamt Mitte behauptet - nicht für die Eignungsfeststellung von Pflegefamilien zuständig war; auch nicht im Fall Chantal. Das sieht die Behörde anders. "Fakt ist, dass es einen Bericht vom September 2008 gibt, in dem der VSE die Eignung der Familie beschreibt", sagt Bezirksamtssprecher Lars Schmidt-von Koss. In dem Bericht heiße es, dass sich das erste Pflegekind bereits gut gemacht habe in der Familie und man "keinerlei Bedenken" habe, Chantal dort ebenfalls unterzubringen.

Warum wusste das Jugendamt nicht, dass die Pflegeeltern mit Methadon behandelt werden?

"Ärztliche Daten unterliegen dem Datenschutz sowie der ärztlichen Schweigepflicht und gehen somit nicht automatisch ans Jugendamt", sagt Gesundheitsbehördensprecher Rico Schmidt. Jedoch gilt seit Anfang des Jahres eine Neuregelung im Bundeskinderschutzgesetz. "Danach dürfen Ärzte auf Anfrage des Jugendamts Auskunft über Pflegeeltern geben", sagt Sozialbehördensprecherin Nicole Serocka. Verpflichtet seien sie jedoch nicht. "Der Arzt kann sich auch aktiv beim Jugendamt melden - wenn er weiß, dass der Patient Pflegevater oder -mutter ist."

Wie kamen die Pflegeeltern an das Methadon?

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft haben sie die Methadon-Tabletten von ihrem Hausarzt. Allerdings darf nicht jeder Arzt Methadon-Patienten betreuen. Er benötigt eine spezielle suchtmedizinische Qualifikation. Teilnehmer eines Methadon-Programms werden vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte registriert. Die codierten Personaldaten werden aber nicht an Jugendämter weitergegeben.

Welche Bedingungen müssen Pflegeeltern erfüllen?

Sie müssen ein Eignungsfeststellungsverfahren durchlaufen, die Pflegeelternschule von "Pfiff" absolvieren und werden mehrfach zu Hause besucht. Zudem müssen sie nachweisen, dass sie nicht auf das Pflegegeld angewiesen sind, und ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. "Delikte wie Missbrauch, Misshandlung und Gewaltanwendung schließen eine Anerkennung aus", heißt es in den Leitlinien zur Auswahl von Pflegeeltern. Aber: Beispielsweise Verurteilungen wegen Drogenmissbrauchs tauchen nach drei Jahren wegen des Resozialisierungsgedankens gar nicht mehr in diesem Führungszeugnis auf. Zu den Wohnbedingungen heißt es: "Günstig ist es, wenn das Pflegekind ein eigenes Zimmer bekommen kann." Als Ablehnungsgrund von Bewerbern wird unter anderem eine fehlende Spielecke und ein fehlendes eigenes Bett für das Kind genannt. Nach Informationen des Abendblatts musste sich Chantal aber mit einem anderen Kind ein Bett teilen.

Wie groß ist der Bedarf an Pflegefamilien in Hamburg, wie viel Pflegegeld gibt es?

"Für Kinder unter fünf Jahren werden sehr schnell Pflegeeltern gefunden", sagt Sozialbehördensprecherin Nicole Serocka. Je älter die Kinder sind, desto schwieriger werde es, sie zu vermitteln. Für ein Kind bis zum Alter von sechs Jahren werden 755 Euro pro Monat gezahlt, bis zum 12. Lebensjahr 828 Euro und ab dem 13. Lebensjahr sind es 909 Euro monatlich.

Werden Pflegefamilien kontrolliert?

Beraten und begleitet werden sie von Sozialpädagogen der Jugendämter. "Um zu gewährleisten, dass sich jeder Sozialpädagoge nicht um mehr als 35 Fälle kümmert, können die Bezirksämter freie Träger beauftragen", sagt Gunda Seitz-Schulte, Koordinatorin der Pflegeelternberatung. Bindend für die Sozialpädagogen sind zwei Hilfegespräche im Jahr. "Dort wird besprochen, ob alle Beteiligten zufrieden sind oder ob die Hilfe für das Kind möglicherweise verändert werden muss." Zudem gebe es die übergeordnete Pflicht, dass die Pädagogen die Familien gut kennen und den Kontakt zu ihnen halten. Wie oft der Mitarbeiter die Familie jedoch besucht, sei individuell. Das heißt: Es gibt keine echte Kontrolle.

Was sagt die SPD?

Sozialsenator Detlef Scheele: Aufgeklärt werden müsse, warum der Drogenkonsum der Pflegeeltern so lange unbemerkt blieb. "Ich habe das Bezirksamt Mitte aufgefordert, mich umfassend über die Einzelheiten des Falls zu informieren." Andreas Dressel, Fraktionschef in der Bürgerschaft: "Es muss sichergestellt werden, dass alle für das Kindeswohl relevanten Daten zusammengefasst werden." Derjenige, der entscheide, ob eine Familie Pflegefamilie werde, müsse Zugriff auf alle Infos haben.

Was sagt die Opposition?

Marcus Weinberg, CDU-Landesvorsitzender, fordert eine genaue Prüfung des Falls und der Organisation im Bezirk Mitte: "Das Auftreten von Bezirksamtsleiter Schreiber ist sehr häufig sehr unglücklich und wirkt nicht gerade vertrauenerweckend." Michael Osterburg, Fraktionschef GAL-Mitte, hält Rücktrittsforderungen noch für verfrüht. Kommende Woche werden sich die Fraktionsvorsitzenden in Mitte mit Schreiber treffen und Akteneinsicht nehmen. "Markus Schreiber wird wohl nicht unbeschädigt aus der Sache rausgehen." Jens Kerstan, GAL-Bürgerschafts-Fraktionschef: "Der Bezirksamtsleiter muss jetzt sehr schnell sehr ernsthafte Fragen beantworten, sonst kann es für ihn eng werden." Christoph de Vries, CDU-Familienpolitiker, nannte den Umgang von Markus Schreiber "mit dem furchtbaren Ereignis skandalös". Es verfestige sich der Eindruck, dass "Schreiber nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems" sei.

Welche Rolle spielt der Jugendhilfeausschuss des Bezirks Mitte?

Er will auf Initiative des Vorsitzenden Johannes Kahrs, Chef der SPD Mitte, den Fall am Montag öffentlich erörtern. Der Ausschuss beschäftigt sich mit Fragen der Kinder- und Jugendhilfe, das Gremium ist auch zuständig für den Allgemeinen Sozialen Dienst. "Alles, was wir aus dem Fall Lara Mia gelernt haben, trifft hier nicht zu", sagt Kahrs.