Eltern melden doppelt so viele Kinder für Regel- statt Sonderschule an. Grüne sprechen von Fehlplanung der Behörde. Rabe verteidigt Konzept.

Hamburg. Es ist eine der ehrgeizigsten und weitestreichenden Schulreformen: Seit dem vergangenen Schuljahr haben Eltern nach Paragraf 12 des Schulgesetzes das Recht, ihr Kind statt auf eine Sonderschule auf eine allgemeinbildende Schule zu schicken. Inklusion - Einschluss - heißt das neue Zauberwort.

Der Run der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, wie die offizielle Bezeichnung lautet, auf die Regelschulen hält unvermindert an. Nach den aktuellen Anmeldezahlen für das kommende Schuljahr, die dem Abendblatt vorliegen, wird sich die Zahl der nach dem Inklusionsprinzip Beschulten etwa verdoppeln.

Für die erste Klasse sind 512 Kinder angemeldet worden. Vor einem Jahr waren es 540 Kinder, wobei allerdings 156 Kinder im Laufe des Jahres noch hinzukamen, sodass in Klasse zwei jetzt 696 Kinder starten. Deutlich wird die Diskrepanz im Vergleich zu den Klassenstufen drei mit 184 und vier mit 143 Kindern. Diese beiden Jahrgänge umfassen keine Inklusion, sondern nur integrative Regelklassen. Auch bei den Stadtteilschulen ist die Welle der Inklusion deutlich zu spüren: Für die fünfte Klasse wurden jetzt 627 Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf angemeldet. Im vergangenen Jahr waren es 556 Kinder, die nun in die sechste Klasse wechseln. Das bedeutet eine Vervielfachung gegenüber den Klassenstufen ohne Inklusion: Die siebte Klasse einer der 54 Stadtteilschulen besuchen 48 förderbedürftige Kinder, Klasse acht 22 Kinder, Klasse neun nur noch sechs und die zehnte Klasse nur ein Kind.

Es sind vor allem Jungen und Mädchen mit Defiziten in den Bereichen Lernen, Sprache sowie soziale und emotionale Entwicklung (sogenannte LSE-Kinder), die auf allgemeinbildende Schulen wechseln. Die GAL-Schulexpertin Stefanie von Berg befürchtet allerdings, dass das "wichtige und richtige Konzept in Hamburg zu scheitern droht". Der Grund: Aus der Senatsantwort auf eine Berg-Anfrage ergibt sich, dass Schulen mit bis zu 30 förderbedürftigen Kindern kurz vor Unterrichtsbeginn fast keine Sonderpädagogen haben. Andere Schulen verfügen zwar über diese Fachkräfte, haben aber gar keine Kinder mit Förderbedarf.

"Der Grund ist offenbar eine katastrophale Planung und Steuerung der Schulbehörde beim Einsatz der Sonderpädagogen", sagt die GAL-Politikerin. "Senator Rabe und die Behörde müssen in den verbleibenden Tagen ein Planungskraftakt hinlegen. Sonst fährt die Idee der Inklusion krachend vor die Wand", sagt von Berg.

Ties Rabe (SPD) weist darauf hin, dass zusätzlich zu den rund 350 Stellen für Sonderpädagogen an allgemeinbildenden Schulen noch einmal 108 Stellen für Sozialpädagogen und Erzieher hinzukommen, was ein vermeintliches Pädagogen-Defizit erkläre. "Die Sozialpädagogen und Erzieher, die wir mit fünf Millionen Euro aus dem Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes finanzieren, sollen sich um die LSE-Kinder kümmern", sagt Rabe. Derzeit liefen die Einstellungsgespräche auf Hochtouren. Ob zum Schuljahresbeginn alle Lehrkräfte an der richtigen Schule in der erforderlichen Anzahl vorhanden sein werden, ist nicht sicher.

"Davon gehen wir nicht zwingend aus. Aber die Weichen sind so gestellt, dass das Geld auf jeden Fall bereitsteht", sagt der Senator. Nach Angaben Rabes erhält jedes LSE-Kind dank des zusätzlichen Einsatzes von Sozialpädagogen und Erziehern drei bis 3,5 Wochenstunden Förderunterricht an den allgemeinbildenden Schulen. Damit liege Hamburg bundesweit an der Spitze.

Senator Rabe will zum Schuljahr 2012/13 mit einem neuen Integrationskonzept starten. Die vier bisherigen Förderformen - integrative Regelklassen, Integrationsklassen, integrative Förderzentren und Inklusion - sollen dann durch ein Prinzip ersetzt werden. "Es gibt zwei Maßgaben: Die Sonderschullehrer sollen Teil des Kollegiums der allgemeinen Schulen sein. Bei der Förderung der LSE-Kinder lassen wir uns von keinem anderen Bundesland übertreffen", sagt Rabe.