Senat schließt Verträge mit Bezirken, um die Ausgaben nicht weiter steigen zu lassen und knüpft an Pläne des damaligen Sozialsenators Wersich an.

Hamburg. Es gibt Ereignisse, die sich ins kollektive Gedächtnis einer Stadt einbrennen. So hat der Anblick der verhungerten Jessica (2005) und der ausgemergelten Lara-Mia (2009) nicht nur die Notärzte schockiert, die nur noch den Tod der kleinen Mädchen feststellen konnten. Diese Fälle haben darüber hinaus in ganz Hamburg etwas verändert - im Denken, aber auch im Handeln von Politik, Jugendämtern und Sozialarbeitern. Im Zweifel wird seitdem lieber eine Familienhilfe mehr gewährt als eine zu wenig. Dabei schwingt oft die Angst mit, für den Tod eines Kindes verantwortlich gemacht zu werden - so wie die Betreuerin des Rauhen Hauses, dieLara-Mias Zustand nicht bemerkt hatte, dafür später angeklagt wurde und 2700 Euro Strafe zahlen musste.

Die Kehrseite der neuen Sensibilität sind die Ausgaben für die "Hilfen zur Erziehung" (HZE): Um knapp 100 Millionen Euro pro Jahr sind sie allein seit dem Tode Jessicas angestiegen. Um diese Kostenexplosion aufzuhalten, schließt der Senat jetzt Verträge mit den Bezirken über ein Umsteuern in dem sensiblen Bereich. Dabei knüpft er an Pläne des damaligen Sozialsenators Dietrich Wersich (CDU) an. Der hatte es 2010 mit einem Brachialprogramm versucht: Um mehr als 50 Millionen Euro pro Jahr wollte er die Ansätze für HZE im Haushalt 2011/2012 eindampfen und stellte im Gegenzug rund zehn Millionen Euro mehr für "sozialräumliche Hilfen" (SHA) in Aussicht. Dazu zählen etwa Eltern-Kind-Zentren.

Die Idee: Lassen sich die Familien in ihr soziales Umfeld einbinden, nehmen sie weniger Einzelfallhilfen in Anspruch. Diesen Weg geht nun auch der neue SPD-Senat weiter, allerdings mit einem gravierenden Unterschied.

Wersichs HZE-Ansätze hält er für "unrealistisch" und hat sie wieder auf gut 230 Millionen Euro pro Jahr raufgesetzt. Schließlich handele es sich um gesetzliche Leistungen - wenn überforderte Familien Hilfe beantragen, könne der Staat sie kaum verweigern. Die Erhöhung der Ausgaben für sozialräumliche Angebote kommt dennoch: Wurden 2005 noch 4,3 Millionen ausgegeben, werden für dieses Jahr 12,1 und für 2012 schon 16,5 Millionen Euro bereitgestellt. "Diese Angebote sollen helfen, problembelastete Familien aus der Isolation ihrer eigenen Wohnung herauszuholen", sagte Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) dem Abendblatt. "In den Einrichtungen können sie mit anderen in den Austausch kommen. Durch die Erziehungstipps und Hilfen dort wird das System der klassischen Hilfen zur Erziehung unterstützt und entlastet." Außerdem sollten Kinder aus bedürftigen Familien "noch mehr in den Regelsystemen wie Kita und Schule gefördert werden", so Scheele.

Mit fünf Bezirken hat die Sozialbehörde bereits Verträge abgeschlossen. So heißt es in der Vereinbarung mit Eimsbüttel, dass dem Bezirk gut eine Million Euro für sozialräumliche Angebote zur Verfügung gestellt werden. Im Gegenzug verpflichtet sich der Bezirk, seine Kosten für HZE zu senken. Waren es 2010 noch 24,4 Millionen Euro, sollen es 2011 knapp 700 000 Euro weniger sein. "Das ist ein Schritt in die richtige Richtung", sagte Bezirksamtsleiter Torsten Sevecke (SPD) dem Abendblatt. An der bisherigen Praxis bemängelte er vor allem die fehlende "Wirkungsanalyse". Mit anderen Worten: Ob die enorm gesteigerten Ausgaben für HZE etwas gebracht haben, ist unbekannt.

Umgekehrt hat SPD-Familienpolitikerin Melanie Leonhard in Heimfeld gute Erfahrungen mit sozialräumlichen Angeboten gemacht: "Familien, die gut in das Eltern-Kind-Zentrum integriert sind, nehmen weniger Einzelfallhilfen in Anspruch. Das ist belegbar." Illusionen über große Sparpotenziale habe sie aber nicht: "Unser bescheidenes Ziel ist es, dass die Ausgaben nicht über Inflationsniveau steigen." Erst langfristig sei eine Senkung der Kosten denkbar.

Ähnlich sieht es Michael Edele, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege: "Sozialräumliche Angebote sind grundsätzlich eine gute Ergänzung. Aber manchmal sind klassische Einzelfallhilfen nötig, um die Betroffenen überhaupt in solche Angebote zu bringen." Das Ziel, die HZE-Kosten zu senken, könne man sich ja vornehmen, aber schon wegen des gesetzlichen Anspruchs habe er Zweifel.

Auch Christoph de Vries (CDU) hält das Umsteuern für richtig. An einen schnellen Effekt auf der Kostenseite glaubt er zwar nicht, fordert aber mehr Ehrgeiz. "Der Senat sattelt bei den Ausgaben ja sogar noch drauf. Da besteht kein Anreiz für die Jugendämter oder den ASD, weniger Hilfen zu bewilligen."

Ein Sonderfall ist der Bezirk Mitte, der den Vertrag mit dem Senat ablehnt. "Wir haben es schon mehrfach mit mehr sozialräumlichen Angeboten versucht", sagte der Vorsitzende des Jugendhilfeausschusses, Johannes Kahrs (SPD). "Aber auch das hatte immer nur einen weiteren Anstieg der HZE-Ausgaben zur Folge." Die Politik habe das Bezirksamt daher aufgefordert, ein Modell zur Stärkung des ASD auszuarbeiten. Kahrs: "Wir schlagen vor, dass die anderen sechs Bezirke den vom Senat vorgeschlagenen Weg gehen, und wir gehen einen anderen. Am Ende vergleichen wir, welcher besser ist."