Zehn Verhandlungstage sollen klären, wer die Schuld am Tod des kleinen Mädchens trägt. Am Donnerstag beginnt der Prozess.

Hamburg. Es war ein Bild des Grauens: Da lag ein winziger Mensch, nicht mehr als Haut und Knochen. Lag rücklings auf dem Boden, neben seinem Kinderbettchen mit der fleckigen Matratze und den schmutzigen Windeln darauf. Die Rippen standen hervor, die Haut war entzündet, das Baby hatte Wassereinlagerungen in Hirn und Lunge. Die kleine Lara-Mia, neun Monate alt, war tot. Als die Sanitäter am Mittag des 11. März 2009 in die Wohnung in Wilhelmsburg eilten, konnten sie nichts mehr tun - die Leichenstarre hatte bereits eingesetzt.

+++ Behörde und Bezirk legen Streit im Fall Lara bei +++

Für jeden Laien, davon ist die Hamburger Staatsanwaltschaft überzeugt, war erkennbar, dass das Mädchen dramatisch unterernährt war. Als es am 11. März 2009 starb, wog es nur 4802 Gramm, sämtliche Fettreserven waren aufgezehrt. Erst gegen Mittag hatte ihre Mutter, Jessica R., damals 18, erstmals nach der Kleinen geschaut und die Rettungskräfte alarmiert. Kurz zuvor war sie mit den Hunden Gassi gegangen und hatte sich um die anderen Haustiere, einen Hasen und eine Ratte, gekümmert. Den Tieren hatte es nach Angaben der vom Jugendamt eingesetzten Betreuerin der Familie nie an etwas gefehlt.

Von Donnerstag (9.15 Uhr) an müssen sich Jessica R. und ihr damaliger Freund Daniel C., der nicht der leibliche Vater des Säuglings war, vor dem Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft klagt sie wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen und wegen Misshandlung einer Schutzbefohlenen an. Weil beide zum Tatzeitpunkt noch Heranwachsende waren, verhandelt eine Jugendkammer, die Große Strafkammer 17. Das Gericht hat bislang zehn Verhandlungstermine anberaumt.

Es gibt gewisse Parallelen zum Fall "Jessica", der als einer der schlimmsten Fälle von Kindesmisshandlung in die deutsche Kriminalgeschichte eingegangen ist. Ihre Eltern hatten die Siebenjährige in einem Raum ohne Tageslicht eingeschlossen, das ausgemergelte Mädchen konnte nicht sprechen und am Ende nur noch kriechen. Vor lauter Hunger hatte es angefangen, seine eigenen Haare zu essen. Jessica starb 2005, keine zehn Kilo schwer, nach jahrelangem Martyrium in einer Jenfelder Hochhaus-Siedlung den Hungertod. Kaum jemand hatte überhaupt von ihrer Existenz gewusst. Noch mehr erinnert an den Fall des verhungerten Florians aus Frankfurt/Oder. Seine arbeitslosen Eltern, ebenfalls Heranwachsende, hatten ihr sechs Monate altes Babys systematisch vernachlässigt. Schrie der Kleine, drehten sie den Fernseher lauter. Am Ende wog Florian weniger als bei der Geburt. Ihren zwei wohlgenährten Hunden, ihren fünf Katzen, Meerschweinen und Fischen hingegen ging es prächtig. Die Eltern wurden 2008 zu sieben und zehn Jahren Haft verurteilt.

Auch Lara-Mia musste hungern, monatelang. Offenbar brachte das Paar nicht die Geduld auf, das Baby mit Löffeln zu füttern. Es habe den erkenntlich kritischen Zustand der Kleinen ignoriert und keinen Arzt zu Hilfe geholt, sagt Wilhelm Möllers, Sprecher der Staatsanwaltschaft. "Nach unseren Ermittlungen ist davon auszugehen, dass den Eltern das Schicksal des Kindes völlig gleichgültig war", sagt Möllers. Dadurch hätten sie Lara-Mias Tod in Kauf genommen. Jessica R. erzählte später, sie habe Angst gehabt, dass das Jugendamt ihr das Baby wegnehme.

Im Fall "Lara-Mia" sickerten Details nach und nach an die Öffentlichkeit und offenbarten neben dem Protokoll eines qualvollen Sterbens einen eklatanten Mangel im städtischen Fürsorgesystem. Von ihrer Geburt an stand Lara-Mia unter dem Schutz von staatlichen Stellen oder von der Behörde beauftragter Institutionen. Eine erfahrene Betreuerin des Freien Trägers Rauhes Haus, Marianne K., hatte sich um die junge Familie gekümmert - zunächst zehn, später fünf Stunden pro Woche, weil es doch so gut lief bei Familie R. Schon vor der Geburt stand die Sozialarbeiterin Jessica R., die mit 17 schwanger geworden war und aus schwierigen familiären Verhältnissen stammt, zur Seite. Acht Tage vor Lara-Mias Tod hatte sie die Kleine begutachtet und bezeugt, das Mädchen sei wohlauf. Sie wird sich wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen vor dem Amtsgericht verantworten müssen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hat sie nicht genug getan, um das Verbrechen zu verhindern.

Aus der Akte geht auch hervor, dass Jessica R. mit der Pflege des Mädchens überfordert war. Dass sie nicht einmal wusste, dass man Babynahrung aufwärmen muss. Daniel C., damals 20, hatte den Ermittlern erzählt: "Laras Lieblingsessen war Lasagne. Und Fruchtzwerge." Von Oktober 2008 an soll sie dramatisch an Gewicht verloren haben. Ihr Großvater setzte sie im Februar 2009 auf die Gemüsewaage eines Supermarktes - da wog sie fünf Kilo, ganze 1370 Gramm mehr als bei der Geburt. Das Normalgewicht eines neun Monate alten Säuglings liegt indes zwischen 7,5 und 10,6 Kilogramm. Allerdings kommt nach rechtsmedizinischen Untersuchungen auch ein plötzlicher Kindstod als Todesursache in Betracht. Die Experten stellten aber fest: Lara-Mia war lebensbedrohlich unterernährt.

Doch wer hat die Augen vor dem Unübersehbaren verschlossen, wer hat versagt in dieser Tragödie, warum fiel ein schutzbedürftiger Säugling durch die Maschen staatlicher Kontrolle? Die CDU-Fraktion sah die Verantwortung beim Bezirksamt Mitte, das den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) stellt. Dessen Chef Markus Schreiber verwies auf die miserable Personalausstattung des ASD. Dem widersprach Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU). Kurz darauf haben 200 Mitarbeiter der Sozialen Dienste in einem offenen Brief an Bürgermeister Ole von Beust die starke Überlastung beklagt: 20 Stellen seien unbesetzt gewesen, obgleich die Meldungen zu Kindeswohlgefährdungen 2009 um 40 Prozent zugenommen hätten. "In dieser reichen Stadt darf nie mehr ein Kind verhungern", sagte SPD-Familienexperte Thomas Böwer.