Erstmals seit 75 Jahren hat die Hamburger Gemeinde eine neu gestaltete Torarolle - für viele Menschen ist das ein bewegender Moment.

Rotherbaum. Fast ein Jahr hatte ein examinierter Schreiber in Jerusalem akribisch gearbeitet, um ein wahrhaftiges Meisterwerk abzuliefern. Die letzten der 380.000 Zeichen auf der neuen Torarolle wurden gestern Abend in Hamburg auf das Leder gezeichnet - wie es sich gehört mit Feder und Tinte. Der Text ist seit 3322 Jahren unverändert. Damit war das Heiligtum jüdischen Lebens bereit zur Einweihung. Erstmals nach den Gräueln der Nazizeit wurde eine solche Zeremonie in der Hansestadt öffentlich abgehalten.

Uralter Tradition gemäß und so, wie es sein soll: in stilvollem und fröhlichem Rahmen. Mehr als 400 Menschen, darunter die stellvertretende US-Generalkonsulin Karen Bell und Bürgerschafts-Vizepräsidentin Eva Gümbel (GAL), hatten sich auf dem Joseph-Carlebach-Platz am Grindelhof versammelt. Genau an der Stelle, an der die alte Hamburger Synagoge vor ihrer Zerstörung stand. Aus gutem, höchst lebendigen Grund wurde das Grindelviertel von den Bürgern früher liebevoll "Klein Jerusalem" genannt. Ein Hauch einstiger Vitalität und Lebensfreude war gestern zu spüren.

Das Quartett Klezmer chidesch aus Berlin spielte schwungvolle jüdische Musik, heiter und herzergreifend, derweil einige der 100 Paten jeweils einen Buchstaben malten. Den Schlusspunkt setzte Rabbi Shlomo Bistritzky. Dann wurde, ganz zeitgemäß, ein Haarföhn zum Trocknen der Tinte eingesetzt. "Und nun tragen wir die Torarolle in ihr neues Leben", sagte der Rabbi um 18.30 Uhr unter dem Beifall der Zuschauer. "Dies ist ein historischer Moment." Wohl nie nach dem Zweiten Weltkrieg habe eine jüdische Zeremonie in Hamburg größeren Zuspruch erlebt. Auch Rabbis aus Jerusalem, New York, München, Potsdam, Berlin und Dresden waren angereist, um einen bewegenden Moment mitzuerleben.

Passanten anderer Religionen ließen sich von der ebenso festlichen wie ausgelassenen Atmosphäre anstecken. Unter dem Schutz einer Chupa, einer Art Samtbaldachin mit vier Stangen, wurde die neue Torarolle in die Synagoge im jüdischen Bildungszentrum Chabad Lubawitsch an der Rentzelstraße gebracht. Passend zum siebten Hamburg-Geburtstag der Institution und dem Todestag des in der Gemeinde unvergessenen Oberrabbis Jonathan Eybeschuetz. Die passende Musik stammte von einem Lautsprecherwagen, der im Schritttempo neben der Prozession fuhr. Glücklicherweise nicht aus Sicherheitsgründen, sondern, um einen Marsch in Würde zu ermöglichen, sperrte die Polizei vorübergehend die Kreuzung Grindelhof/Grindelberg sowie die angrenzenden Straßen. Derweil die Torarolle, behütet vom Dach der Chupa, in Richtung Synagoge transportiert wurde, tanzten Erwachsene. Kinder hielten Fackeln, tanzten gleichfalls, sangen Lieder.

Mancher in der Prozession hatte Tränen in den Augen. Und Rabbi Bistritzky musste Hände schütteln. Immer wieder. Mit seiner Initiative hatte er es geschafft, 100 Hamburger Juden als Paten der Torarolle zu gewinnen. Insgesamt kostete das neue Heiligtum 35 000 Euro. Darin enthalten sind die Arbeit des Schreibers in Jerusalem, des Sofer-Stam, die Materialkosten und der silberne Zeigefinger. Während des Gottesdienstes wird dieser von einem religiösen Helfer gelenkt, damit sich der Rabbi ungestört auf das Vorlesen konzentrieren kann. Auf der Torarolle, dessen Halterung aus koscherem Holz gefertigt ist, wurde eine Krone angebracht, gleichfalls aus Silber. Auf dem Mantel aus blauem Samt sind in glänzenden Buchstaben die Namen der Spender notiert. Eine Ehre.

"Diese Aktion bringt unserer Gemeinschaft weiteren Auftrieb", sagte Ruben Herzberg, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Hamburg. Aktivitäten und positive Aufmerksamkeit hätten in letzter Zeit sehr zugenommen.

Dass es seit gestern nun erstmals seit einem Dreiviertel Jahrhundert ein ganz neu hergestelltes Symbol des jüdischen Lebens gibt, stieß in der Gemeinschaft auf Begeisterung. "Die Torarolle ist Grundlage unseres Glaubens - das hält uns zusammen", sagte Reisefachkauffrau Taly Almagar aus Harvestehude unter zustimmendem Nicken der Umstehenden. "Sie zeigt unsere Wurzeln und beweist: Hier ist jüdisches Leben." Der Ehemann der jungen Frau zählt zu den auf dem Stoff verzeichneten Sponsoren. Auch Frau Almagar will sich bei einer Gebetsstunde in den kommenden Tagen persönlich ein Bild vom praktischen Einsatz der symbolträchtigen Rolle machen.

Nach einer guten Stunde wurde sie in den kleinen Synagogenraum transportiert. Auf einer Leinwand vor der Tür konnte die Menge den Schluss der Zeremonie miterleben. Siebenmal schritten der Rabbi und seine Gäste um den Tisch mit dem Heiligtum. Dann wurde es in einem Holzschrank platziert. Zur Feier eines ganz besonderen Tages wurden selbst gebackener, natürlich koscherer Kuchen, Säfte und Mineralwasser gereicht.

Zum Frühgebet morgen wird die neue Torarolle ihren Premiereneinsatz erleben. Zum Stolz der jüdischen Gemeinschaft in Hamburg. Und darüber hinaus ...