Neugraben. Hatice Nazerzadeh sorgt für ihre Familie und Menschen in Harburg, die es nicht leicht haben. Begegnung mit einer starken Frau.

  • Am 19. Februar jährt sich der Terror-Anschlag von Hanau zum vierten Mal
  • Ein Rassist ermordete an diesem Tag im Jahr 2020 neun Menschen, darunter den Cousin von Hatice Nazerzadeh
  • Trotzdem – oder genau deshalb – kämpft die alleinerziehende Mutter weiter gegen Rassismus, Hass und die AfD

„Ich kann mir ein Leben nicht vorstellen, ohne anderen Menschen helfen oder sie fördern zu können.“ Das sagt Hatice Nazerzadeh. Die Kurdin mit deutschem Pass stammt aus einer Gastarbeiterfamilie, kam vor 51 Jahren als Zweijährige aus dem Osten der Türkei nach Deutschland. Hier ist ihre Heimat.

Seit 2015 ist sie in der Flüchtlingsarbeit aktiv und trägt dazu bei, vielen anderen Migranten eine neue Heimat zu schaffen. Sie hilft auch vielen anderen bedürftigen Menschen. Sie geht dabei täglich an ihre eigenen Grenzen – und steht wie ein Fels in der Brandung für ihre Überzeugungen. Aus diesem Grund lehnte sie sogar schon einmal ein Vier-Augen-Gespräch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ab (mehr dazu am Ende dieses Artikels).

Für ihren Kampf gegen Rassismus geht Hatice Nazerzadeh bis an ihre Grenzen

Hatice Nazeradeh ist eine Frau, die in vielerlei Hinsicht beeindruckt. Sie leiste jeden Tag vier bis sechs Stunden ehrenamtliche Arbeit, sagt die alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Sie hat zwei Söhne im Alter von 9 und 21 Jahren sowie eine 31-jährige Tochter.

Um die Familie zu ernähren, arbeitet die Sprach- und Kulturvermittlerin als Honorarkraft an Schulen, hilft Kindern in sogenannten IVK-Klassen (Internationale Vorbereitungsklassen) über sprachliche Barrieren hinweg. Neben Türkisch und Deutsch spricht sie Kurdisch, Farsi (Persisch) und Dari (afghanische Farsi-Variante).

„Als Deutsche musste ich um mein Kopftuch kämpfen“

Ihre Arbeit erfüllt sie, aber ernährt sie kaum. „Viele Träger wollen, dass ich bei ihnen arbeite. Aber ehrenamtlich“, sagt die gläubige Muslima. Beim DRK Harburg, wo sie bis Jahresende als Elternlotsin im Einsatz war und nur eine Aufwandsentschädigung erhielt, habe sie Probleme wegen ihres Kopftuchs gehabt: „Als Deutsche musste ich um mein Kopftuch kämpfen. Dabei kann ich alles damit machen, auch Sport und Schwimmen.“

Jetzt sitzt sie gerade im „Café Welcome“ der Initiative „Willkommen in Süderelbe“. Es ist ein Treffpunkt vor allem für Frauen mit Kindern, der regelmäßig im Quartiersraum JoLa abgehalten wird. Immer wieder wird sie während des Gesprächs mit dem Abendblatt begrüßt, auch mit der Frage: „Hast Du nachher noch ein bisschen Zeit?“

Die Initiative hatte sich gegründet, als die Stadt 2015 eine große Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete im ehemaligen Obi-Markt plante. „Wir waren die Ersten, die am Aschenland Hilfe angeboten haben“, sagt Nazerzadeh nicht ohne Stolz.

Die Flüchtlingsbetreuung sei eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe, sagt Nazerzadeh

Neugraben: Hatice Nazerzadeh betreut Flüchtlinge, hilft Menschen mit Behinderungen, arbeitet im Harburger Integrationsrat, ist Hauptschöffin am Amtsgericht Harburg.
Neugraben: Hatice Nazerzadeh betreut Flüchtlinge, hilft Menschen mit Behinderungen, arbeitet im Harburger Integrationsrat, ist Hauptschöffin am Amtsgericht Harburg. © Angelika Hillmer | Angelika Hillmer

Die Unterstützung von Geflüchteten aus sehr unterschiedlichen Ländern und Kulturen gebe ihr viel Energie, sagt die Kurdin: „Wir sind wie eine große Familie.“ Als Muslima setze sie sich für Rechte von Frauen mit muslimischer Abstammung ein, organisiert zum Beispiel Tanzabende nur für sie. „Die Männer vertrauen mir. Sie haben mir ihre Frauen anvertraut, und es ist für sie okay, wenn ihre Frauen erst gegen Mitternacht nach Hause kommen.“

Die Flüchtlingsbetreuung sei eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe, sagt Nazerzadeh: „Ich werde angerufen, wenn irgendwo die Heizung ausgefallen ist oder eine Geburt ansteht.“ Zu jeder Tages- und Nachtzeit.

„Die jesidischen Migranten haben gemerkt, dass nicht alle Muslime schlecht sind“

Ihre verbindende Art hat dazu beigetragen, dass sogar Jesiden ihre Hilfsangebote annehmen. „Muslime verfolgen Jesiden seit Jahrhunderten. Sie sind deren schlimmste Feinde. Das ist der Grund, warum etwa im Irak Massaker an der jesidischen Bevölkerung verübt wurden.“

Sie habe Ängste abgebaut, sagt die fleißige Helferin: „Die jesidischen Migranten haben gemerkt, dass nicht alle Muslime schlecht sind, dass die Feindschaft nichts mit dem Glauben zu tun hat.“ Sie werde jedes Jahr zu den Jahresfesten der Jesiden eingeladen, sagt sie.

Seit 20 Jahren unterstützt Nazerzadeh Menschen mit Behinderung

Ein weiterer Schwerpunkt ihres ehrenamtlichen Engagements ist die Unterstützung von behinderten Menschen. Seit 2004 ist sie im Verein „Leben mit Behinderung Hamburg“ aktiv. Drei Neugrabener besucht sie regelmäßig, macht mit ihnen Ausflüge – „die Freude in ihren Augen zu sehen, ist unbezahlbar!“, sagt sie. Ihre Kinder seien mit behinderten Menschen aufgewachsen, daraus seien Respekt und Achtung gewachsen. Zudem ist sie gesetzliche Betreuerin eines schwerstbehinderten Syrers.

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Hatice Nazerzadeh fühlt sich als Deutsche, sagt aber auch, dass sie an ihren Wurzeln, ihrer Kultur hänge. Sie versuche, beide Seiten zu vermitteln. Dabei rufen das Kopftuch und allgemein ausländische Namen oftmals negative Reaktionen hervor, etwa bei Bewerbungen oder bei der Wohnungssuche. Und sie sagt auch: Deutschland habe sich sehr zum Negativen entwickelt.

Beim Attentat von Hanau wurde vor zwei Jahren ihr Cousin erschossen

Die 53-Jährige hat selbst Erfahrungen mit rechter Gewalt machen müssen. Sie lebte mit ihren Eltern und weiteren Familienangehörigen in Hanau, bevor sie 1991 mit ihrem damaligen Ehemann nach Hamburg zog. Bei dem Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 kam ihr Cousin Gökhen Gültekin ums Leben. Der Rassist Tobias Rathjen (43) hatte neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen und weitere schwer verletzt, dann seine Mutter getötet und schließlich sich selbst.

Gedenken an die Opfer auf dem Hanauer Markplatz: Ein Junge stellt vor den Fotos der Ermordeten eine Kerze auf.
Gedenken an die Opfer auf dem Hanauer Markplatz: Ein Junge stellt vor den Fotos der Ermordeten eine Kerze auf. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | picture alliance

Auf der Trauerfeier, an der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnahm, meldete sich Nazerzadeh zu Wort: „Es kann nicht sein, dass die Regierung so etwas wie die AfD – rassistisch, rechtsradikal – fördert und legalisiert, aber auf der anderen Seite uns Solidarität zuspricht“, sagte sie damals vor laufender Kamera des TV-Senders RTL.

Präsident Steinmeier habe sie daraufhin zu einem Gespräch hinter verschlossenen Türen eingeladen, erzählt die Kämpferin für Gerechtigkeit. Das habe sie nicht akzeptiert: „Was er zu sagen hat, soll er allen sagen, nicht nur mir.“

Vater des Attentäters bedrängt Familie eines Opfers

Es werde zu wenig gegen den Rechtsextremismus unternommen, so Nazerzadeh. Auch nach dem Terror von Hanau. „Der Vater des Attentäters hat dieselbe Gesinnung. Er wohnt in derselben Straße wie eines der Opfer und stalkt dessen Familie noch heute. Es ist nicht zu fassen, dass das möglich ist.“

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Wie damals fordert sie auch heute ein Verbot der AfD: „Deutschland ist ein Land der Demokratie, wo man mit Rechten und Pflichten in Frieden leben kann. AfD-Deutschland wäre ein Land ohne Demokratie.“ Sie ruft alle Bürger jedweder Herkunft auf, sich gegen Rassismus einzusetzen und alles, was rassistisch ist, zu boykottieren: „Wir müssen uns alle fragen: Was habe ich bisher gemacht? Und was nicht?“

Hatice Nazerzadeh bietet der AfD die Stirn, als Muslima und Mutter

Abgesehen von der AfD sieht die Kurdin nur einen zweiten „negativen Punkt“ ihres Heimatlandes: die Waffenproduktion. Vor allem der massenhafte Export von Waffen müsse sofort aufhören. Er verursache Leid in vielen Ländern, führe zu weiteren Flüchtlingsströmen.

In die Lokalpolitik bringt sich Hatice Nazerzadeh als Mitglied des Harburger Integrationsrats ein. Dort wurde sie Ende Januar gerade für die nächsten fünf Jahre wiedergewählt. Ihr Arzt habe ihr zwar gesagt, sie stünde kurz vor einem Burnout. Aber sie will so engagiert weitermachen wie bisher. Anders geht es nicht, sagt sie.