Kinder und Jugendliche mit schweren psychischen Erkrankungen müssen lange auf einen Therapieplatz warten. Es fehlen vor allem Fachärzte.

Winsen. Im Landkreis Harburg fehlen Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie der Bertelsmannstiftung. Der von der Stiftung ermittelte Wert für den Kreis Harburg liegt um mehr als die Hälfte unter dem Bundesdurchschnitt. Fachleute sprechen von einer eklatanten Unterversorgung in der Region.

Zum einen gibt es zu wenige Ärzte und Therapeuten aus dieser Fachrichtung, die sich im Kreis Harburg niederlassen. Zum anderen ist die Bedarfsplanung völlig veraltet. Psychisch auffällige Kinder und Jugendliche müssen Wartezeiten von vier Wochen bis zu mehr als einem Jahr für einen Therapieplatz in Kauf nehmen. Für schwere Fälle sieht die Versorgungslage noch katastrophaler aus, "weil es keinen Mechanismus in Deutschland gibt, der sicherstellt, dass schwer gestörte Kinder und Jugendliche genauso schnell und sicher einen Therapieplatz bekommen wie leichtere Fälle", sagt Dr. Alexander Naumann. Naumann ist Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Klinik Lüneburg.

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Die Klinik versorgt mit einer Außenstelle in Buchholz auch den Kreis Harburg. In den Kliniken, so der Mediziner, landeten die ganz akuten Fälle, beispielsweise die Notfälle mit Selbstmordgefahr. Die Kliniken sind auch ein letzter Rettungsanker für junge Patienten, die zum akuten Notfall geworden sind, weil sie keinen Therapieplatz bekommen haben. Im Landkreis Harburg sei in den vergangenen Jahren in Zusammenarbeit mit der Kreisverwaltung sehr viel in dem Bereich getan und verbessert worden, so Naumann. Aber die deutsche Gesetzeslage müsse an heutige Bedarfe und an die heutigen medizinischen Erkenntnisse noch angepasst werden.

Naumann nennt ein Beispiel: "Psychotherapien für Kinder und Jugendliche werden von den Kassen in der Regel für 45 Therapie-Stunden genehmigt. Medizinisch-therapeutisch sind wir heute aber so weit, dass man in leichten Fällen eine Therapie schon deutlich früher beenden könnte." Die Therapeuten müssten die jungen Patienten aber weiter behandeln, so Naumann, damit "ihre Arbeit überhaupt planbar finanzierbar" sei. Die Wartezeiten für nachfolgende Patienten verlängerten sich dadurch unnötig. Naumann: "Hier werden die Therapeuten in ein Korsett gezwängt, das die Möglichkeiten einer modernen Kurzzeit-Psychotherapie einfach außer Acht lässt."

Lasse sich ein Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, meist sind es Psychologen, im Landkreis nieder, könne er damit rechnen, dass er innerhalb weniger Tage auf ein bis zwei Jahre hinaus ausgebucht sei. So groß ist der Bedarf. Ähnliches gelte, so der Mediziner, für die Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Im Bereich Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche gibt es zwar eine Bedarfsplanung, die allerdings auch die Psychotherapeuten für Erwachsene beinhalte, so Naumann. In der Regel erreichten Psychotherapeuten für Erwachsene innerhalb kürzester Zeit die Obergrenze der Niederlassungsmöglichkeiten. Das Gebiet sei damit abgedeckt, ohne dass es ausreichend therapeutische Angebote für Kinder und Jugendliche gebe, so Naumann.

Aktuell, sagt Naumann, gebe es im Kreis Harburg laut kassenärztlicher Vereinigung sechs bis neun therapeutische Einzelpraxen, in denen Kinder und Jugendliche behandelt würden. "Dieses Angebot reicht nicht annähernd für eine adäquate Betreuung. Leider sieht es in der Praxis immer noch so aus, dass die leichten Fälle in der Regel recht schnell einen Therapieplatz bekommen, die schweren Fälle müssen entweder lange warten oder bekommen erst gar keinen Platz", sagt Dr. Alexander Naumann. Die Lüneburger Klinik und die Außenstelle in Buchholz würden gerne Therapien in diesem Bereich anbieten, könnten es aber nicht. Ein Grund: Die Kassen vergüten nicht die notwendigen Einzelstunden, sondern nur Quartalspauschalen.

Für den Bereich der ärztlichen Kinder- und Jugendpsychiater gibt es noch keine Bedarfsplanung. Diese Fachärzte können sich niederlassen, wo sie möchten. Viele junge Mediziner aus dieser Fachrichtung lassen sich lieber in einer Großstadt wie Hamburg nieder. Dennoch, so Naumann, stünde der Landkreis mit zwei niedergelassenen Fachärzten für Kinder und Jugendpsychiatrie immer noch besser da, als der Heidekreis oder Uelzen. In beiden Landkreisen gibt es keinen niedergelassenen Kinder und Jugendpsychiater.

Nicht vergütet werde, so Naumann, die im Landkreis Harburg geleistete Netzwerkarbeit aller Ärzte und Therapeuten. Naumann: "Diese Koordinationsarbeit ist enorm wichtig, damit die Versorgung trotz des geringen Angebots einigermaßen in den Griff zu bekommen ist. Alle an der Versorgung beteiligten Kollegen leisten exzellente Arbeit unter schwierigen Bedingungen."

Naumann hält die Bertelsmann-Studie für "gut und wichtig", aber zu wenig differenziert, um genaue Aussagen über die Versorgung machen zu können. "Hier werden Fachärzte und Therapeuten in einen Topf geworfen, ebenso wie die Rolle der Fachkrankenhäuser mit ihren Institutsambulanzen ignoriert wird."