Hinter extremer Ungeschicktheit kann eine Dyspraxie stecken. Die Störung wird unterschätzt, meint ein Kinderpsychiater

Hamburg. Sie werden bei Klassenarbeiten nicht rechtzeitig fertig, können im Sport nicht mit anderen mithalten oder haben immer blaue Flecken, weil sie sich häufig verletzen. Kinder, die dadurch immer wieder auffallen, leiden möglicherweise an einer sogenannten Dyspraxie, einem Entwicklungsrückstand der motorischen Funktionen. "Diese Teilleistungsstörung wird unterschätzt. Ich sehe bei meiner Arbeit ein bis zwei Kinder in der Woche mit einer Dyspraxie. Und oft leiden sie schon Jahre daran, ohne dass jemand die Ursache für ihre Probleme erkannt hat. Dabei kann die Störung dramatische Folgeschäden haben", sagt Prof. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am Universitätsklinikum Eppendorf.

Die Kinder bekommen Probleme in der Schule, ihr Selbstwertgefühl leidet. Sie halten sich für dumm, sind verzweifelt und werden depressiv. Zwar ist die Dyspraxie kaum bekannt. "Aber man muss davon ausgehen, dass sie ähnlich häufig ist wie zwei andere, bekanntere Teilleistungsstörungen, die Legasthenie und das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Diese treten bei etwa drei Prozent der Bevölkerung auf", sagt der Kinderpsychiater.

Teilleistungsstörungen sind durch spezifische Ausfälle in einem bestimmten Teilbereich der geistigen und motorischen Entwicklung gekennzeichnet. Die Ursache für eine Dyspraxie ist eine neuronale Fehlschaltung. Das bedeutet, im Gehirn des Kindes sind mehrere Bereiche, die für die Koordination von Bewegungen zuständig sind, nicht richtig vernetzt.

Die Schwierigkeit ist, dass diese Störungen keine einheitlichen Symptome haben, so wie Legasthenie oder die Rechenschwäche, sondern sich sehr unterschiedlich zeigen. So kann zum Beispiel die feinmotorische Fähigkeit der Kinder, ihr Wissen in Schrift umzusetzen, eingeschränkt sein.

Das hat zur Folge, dass sie im mündlichen Unterricht komplett unauffällig sind, aber in den schriftlichen Arbeiten regelmäßig schlecht abschneiden, weil sie die Aufgaben nicht schaffen. "Typisch ist auch, dass die Mutter erzählt, dass es nachmittags Stunden dauert, bis das Kind seine Hausaufgaben erledigt hat, dass es dafür dreimal so lange braucht wie andere Kinder", erzählt Schulte-Markwort. Bei anderen Kindern kann mehr die Koordination betroffen sein. Sie greifen zum Beispiel häufiger neben die Kakaotasse oder sind tollpatschig, können keine Bälle fangen und nicht Fußball spielen, haben häufiger Unfälle, sind im Sport schlecht. Andere können sich schlecht im Raum orientieren, sodass sie oft irgendwo anstoßen.

Um die richtige Diagnose zu stellen und sie von anderen Störungen wie zum Beispiel dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHS) abzugrenzen, sind eine gründliche neurologische Untersuchung und psychologische Tests nötig. "Häufig kommen wir darauf, wenn wir mit den Kindern einen Intelligenztest gemacht haben. Dort zeigen sich dann isolierte Ausfälle, zum Beispiel in der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Das heißt, wir sehen normal, manchmal auch überdurchschnittlich intelligente Kinder, die aber extrem langsam sind. Das ist häufig der erste Hinweis", erklärt Schulte-Markwort.

Die Diagnose Dyspraxie wird immer dann gestellt, wenn eine deutliche Differenz zwischen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und dem Rest der Intelligenz besteht. In der körperlichen Untersuchung können sich diskrete Hinweise auf Schwächen in der Feinmotorik oder in der Koordination von Armen und Beinen oder der Links-Rechts-Koordination zeigen.

Doch wie kann man diesen Kindern helfen? "Das Erste, was ich Eltern dann immer sage: ,Jetzt braucht Ihr Kind erst mal Trost, Verständnis dafür, dass es gar nichts dafür kann, wenn es nachmittags Stunden dauert, bis die Hausaufgaben erledigt sind.' Und damit die Kinder für diese Defizite nicht noch bestraft werden, müssen die Eltern bei den Lehrern einen Antrag auf Nachteilsausgleich stellen. Darauf haben alle Kinder mit Teilleistungsstörungen ein Anrecht", sagt Schulte-Markwort. Bei einem Kind mit einer Dyspraxie muss individuell geklärt werden, in welchem Fach das Kind einen Nachteilsausgleich braucht. Das kann zum Beispiel heißen, bei schriftlichen Arbeiten weniger Aufgaben für dieselbe Zensur zu bekommen oder mehr Zeit oder dass im Sport die Anstrengungsbereitschaft und weniger die Leistung benotet wird.

Außerdem brauchen die Kinder eine Therapie, in der ihnen andere Lernstrategien vermittelt werden. "Dadurch können sie lernen, mit der Dyspraxie besser zurechtzukommen. Beheben kann man die Störung nicht, sie bleibt lebenslang bestehen", sagt der Kinderpsychiater. Ist es bereits zu Folgeschäden wie niedriges Selbstwertgefühl oder Depressionen gekommen, ist eine Psychotherapie sinnvoll.