35 Kinder aus der ukrainischen Stadt Bila Zerkwa weihen die Lehrküche am Kiekeberg ein

Ehestorf. Es herrscht Hochbetrieb in der neuen Küche des Agrariums im Freilichtmuseum am Kiekeberg. Die Kinder kneten Pizza-Teig, rollen den Teig aus und belegen ihn mit Tomaten, Paprika und mächtig viel frisch geriebenem Käse - das Auge isst mit. Für Kinder und Küche ist dieser Tag eine Premiere.

35 Kinder aus der 1750 Kilometer entfernten ukrainischen Stadt Bila Zerkwa und ihre Betreuerinnen weihen die Lehrküche im Freilichtmuseum am Kiekeberg ein. Kennt man in der Ukraine Pizza? Klar, und auch dort gehört der italienische Ofen-Klassiker zum Muss auf der heimischen Speisekarte für Kinder, aber nur in reichen Familien.

Die Kinder, die gerade auf Einladung der Scharnebecker Stiftung Hof Schlüter fast sechs Wochen lang in der Jugendbildungsstätte in Neetze leben und ihre Ferien genießen, gehören nicht zu den Reichen. Seit 2001 organisiert die Stiftung, die neben vielen Jugendprojekten in Niedersachsen auch humanitäre Hilfe für die 230 000 Einwohner-Stadt Bila Zerkwa in der Ukraine leistet.

Es sind ausgesuchte Kinder aus sehr armen Verhältnissen, die auf Einladung der Stiftung nach Neetze kommen, für viele ist es überhaupt das erste Mal in ihrem Leben, dass sie die Stadt verlassen konnten. Eine Stadt, in der die Kinder in dem Fluss schwimmen, in den die Reifenfabrik auch ihr Abwasser einleitet. Ein Freibad gibt es nicht.

Rund 30 Stunden dauert die Fahrt von Bila Zerkwa nach Neetze. "In den ersten Jahren haben wir uns darüber gewundert, dass die Kinder gekochte Kartoffeln bei sich hatten, als sie ankamen. Bis uns eine Betreuerin sagte, die Eltern hätten ihnen die Kartoffeln für unterwegs gegeben", sagt Stiftungsvorstand Peter Novotny.

Für viele Eltern sei es, so Novotny, schlichtweg zu teuer, ihren Kindern vernünftiges Essen für die Fahrt mitzugeben. Kein Wunder also, dass der Tag in der Lehrküche ein echtes Highlight im Programm der ukrainischen Kinder ist. "Das Essen ist toll. Wir bekommen jeden Tag Salat, und jeden Tag kocht man für uns etwas anderes. Mir schmeckt es sehr gut", sagt Svyatoslaw. Ja, ein wenig Heimweh nach seinen Eltern, seinen beiden älteren Geschwistern habe er schon, aber hier in Deutschland sei es wirklich sehr schön, erzählt der zehn Jahre alte Junge, während die Pizza, die er und seine Freunde gerade belegt haben im Ofen gart.

Svyatoslaw kommt aus einer Region, die noch heute unter den Folgen der Tschernobyl-Katastrophe vor rund 25 Jahren leidet. In seinem Pass trägt er einen Vermerk, dass er aus der "dritten Zone" kommt. Ihre Herkunft hat diesen Kindern in Deutschland die Bezeichnung "Tschernobyl-Kinder" eingebracht. Über Bila Zerkwa regnete damals eine der größten atomaren Wolken, die bei der Explosion im Reaktor Tschernobyl freigesetzt worden war, herunter. Viele Kinder in Svyatoslaws Heimat sterben noch heute an Krebs, auch weil ihre Eltern die für ukrainische Verhältnisse immens teure Behandlung gegen die Krankheit oft nicht bezahlen können.

Novotny: "Für uns ist es wichtig, dass diese Kinder ein paar Wochen ohne Sorgen was erleben, spielen und sich satt essen können. Für unsere Kinder sind das Selbstverständlichkeiten, für diese Kinder nicht." Ausflüge nach Hamburg, in die Wildparks der Umgebung und ins Museum am Kiekeberg stehen unter anderem auf dem Ferienprogramm. Museumssprecherin Marion Junker: "Die Stiftung Hof Schlüter hat uns diese Küche gestiftet, daher fanden wir es eine gute Idee, wenn die Kinder aus Bila Zerkwa hierher kommen und als erste die Küche benutzen können, sozusagen ankochen. Nach dem Essen haben unsere Museumspädagogen noch Wasserexperimente vorbereitet. Wir hoffen, dass die Kinder heute viel Spaß hier haben werden." Mascha jedenfalls hat eine Menge Spaß. Auf die Frage, was ihr in Deutschland am besten gefalle, gibt das neun Jahre alte Mädchen eine verblüffende Antwort: "Hier sind so viele, wunderschöne Blumen. Das mag ich. Bei mir zu Hause haben wir nicht so viele Blumen. Ich liebe Blumen."

Sie sei noch niemals in ihrem Leben fort von Bila Zerkwa gewesen, sagt sie. Und dann lächelt Mascha schüchtern, ja, sie habe ein wenig Heimweh, sie sei auch sehr aufgeregt gewesen, als der Bus in Bila Zerkwa in Richtung Deutschland abgefahren sei, aber jetzt sei es "sehr, sehr schön hier". Und Svyatoslaw fügt hinzu: "Die Menschen sind hier sehr nett zu einander, man grüßt sogar Leute, die man gar nicht kennt."

Als die ersten "Tschernobyl-Kinder aus Bila Zerkwa nach Deutschland kamen, das war kurz nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989, da hatten diejenigen, die diese Transporte aus der Ukraine organisierten, aber noch einen Hintergedanken. Nathalie Gedz, Deutschlehrerin aus Bila Zerkwa, gehörte zu ihnen. "Wir wollten, dass unsere Kinder sehen und am eigenen Leib erfahren, wie es ist, in Freiheit zu leben, in einer Demokratie zu leben. Denn unsere Hoffnung, dass es bei uns mal besser werden wird, liegt auf den nächsten Generationen, auf unseren Kindern, die in Deutschland waren", sagt die Ukrainerin, die in ihrer Heimat die Aktivitäten der Stiftung Hof Schlüter unterstützt. Der Weg der Ukraine zur Demokratie, so Gedz, sei mehr als steinig.

Ganz und gar nicht steinig ist die Pizza, die die Kinder in der Lehrküche gebacken haben. Und sie schmeckt allen ausgezeichnet. Mehr Informationen über die Arbeit der Stiftung Hof Schlüter gibt es auch im Internet.

www.stiftung-hof-schlüter.de