Eine Serie über den Besuch und die Hilfe der Stiftung Hof Schlüter in der ukrainischen Stadt Bila Zerkwa

Bila Zerkwa. Es ist die Nacht zum 26. April 1986. Im Block vier des Kernkraftwerks Tschernobyl, keine 300 Kilometer von der 220 000 Einwohner-Stadt Bila Zerkwa in der Ukraine entfernt, ereignet sich der schwerste nukleare Unfall der Geschichte. Ursache sind eine Kernschmelze und Explosion in Block vier. In der Folge gelangten große Mengen radioaktiven Materials in die Luft. Eine der größten radioaktiven Wolken zog in Richtung Bila Zerkwa und regnet über der Stadt ab.

Fast 25 Jahre später: Auf die Frage, wie es ihr jetzt gehe, antwortet Katja mit zarter Stimme: "Normal." Das Wort normal hat in der ukrainischen Sprache dieselbe Bedeutung wie in der deutschen Sprache. Katja lächelt und hat Mühe, wach zu bleiben. Das Kind ist blass und sehr erschöpft. Sie lehnt sich an ihre Mama. Das Treppensteigen kostet sie viel Kraft. Die Mütze behält das kleine Mädchen auf, es schämt sich wegen seiner Glatze. Die Beine tun dem Kind sehr weh. Acht Jahre alt ist Katja, und es ist nicht sicher, ob sie viel älter werden wird. Sie hat Leukämie und kommt gerade aus dem Krankenhaus, wo sie die erste Chemo-Therapie bekommen hat. Vier krebskranke Kinder teilen sich dort mit ihren Müttern ein Zimmer. Gekocht wird auf einem kleinen Gaskocher im Zimmer, erzählt ihre Mutter. Von der wässrigen Kohlsuppe, die man den Kindern im Krankenhaus gegeben habe, wären die kleinen Krebspatienten nicht einmal satt geworden.

Katja ist mit ihren Eltern in das Hotel gekommen, in dem sich Peter und André Novotny vom Vorstand der Lüneburger Stiftung Hof Schlüter für vier Tage einquartiert haben. Katjas Eltern, Tanja und Ruslan Scherstjuk, fällt ihre Rolle als Bittsteller sichtlich schwer. Sie möchten die Novotnys um Hilfe bitten. Ob die Stiftung die Möglichkeit hat, ihre schwer kranke Tochter Katja für einige Wochen nach Deutschland zu holen, damit sie dort richtig behandelt werden kann, fragen sie.

Um die bisherigen Behandlungskosten für ihre kleine Tochter aufbringen zu können, haben der Automechaniker und die Krankenschwester sich in für ukrainische Verhältnisse in sehr hohe Schulden gestürzt. 50 000 Ghrifna (rund 5000 Euro) hat die Behandlung ihrer kleinen Tochter bislang gekostet. Eine Chemo-Therapie kostet rund 30 000 Ghrifna. Bekannte, Freunde und Kollegen haben der Familie Geld gegeben. Sogar Bila Zerkwas Bürgermeister Wassyl Sawtschuk hat 300 Ghrifna gespendet. Krankenkassen gibt es in der Ukraine nicht. Wer medizinische Hilfe braucht, muss bezahlen - "offiziell und inoffiziell", wie es in der Ukraine heißt. Gemeinsam verdienen die Scherstjuks etwa 2700 Ghrifna, zum Leben bleiben der Familie knapp 1000 Ghrifna (100 Euro).

Katja und ihre Eltern leben in der "vierten Zone". Nach der Reaktor-Katastrophe im Reaktor Tschernobyl im April 1986 zog eine atomare Wolke über die 220 000 Einwohner Stadt Bila Zerkwa, die etwa 80 Kilometer südlich von Kiew und rund 250 Kilometer südlich von Tschernobyl liegt. Die Wolke regnete über der Stadt ab. Noch heute kommen in dieser Gegend missgebildete Kinder auf die Welt. Die Krebsrate ist enorm hoch. Offizielle Statistiken über Krebserkrankungen gibt es nicht. Und die Vergünstigungen für Krebspatienten aus der "Vierten Zone" stehen nur auf dem Papier. Eigentlich hätten Tanja und Ruslan zur Gesundheitsbehörde gehen und um die Hilfe bitten können, die ihnen per Gesetz zusteht. Aber sie wissen, dort würde man ihnen nur sagen, dass die Medikamente, die ihre Tochter braucht, nicht da sind.

In der Ukraine sagen die Menschen: "Alles, was kostenlos ist, bekommst du nicht." Also haben sich die beiden, um keine wertvolle Zeit zu verlieren, das Geld geliehen. Krankenkassen, die Behandlungskosten übernehmen würden, gibt es nicht. "Wer kein Geld hat, und niemanden kennt, der Geld verleiht, hat Pech gehabt und kann sich eben nicht von einem Arzt behandeln lassen. Der Staat lässt seine Menschen einfach im Stich. Unsere Leute versuchen eben, nicht krank zu werden", sagt Dolmetscherin Natalie Gedz. Das ukrainische Gesundheitssystem liegt am Boden. Nur die Reichen können sich eine gute Behandlung leisten.

Natalie Gedz begleitet die Novotnys auf ihren regelmäßigen Besuchen in Bila Zerkwa. Seit rund acht Jahren leistet die Scharnebecker Stiftung Hof Schlüter hier in Bila Zerkwa humanitäre Hilfe. Ein- bis zweimal im Jahr reisen die Novotnys in die Ukraine. Sie überzeugen sich davon, wo die aus Deutschland angelieferten Hilfsgüter eingesetzt werden. Sie besuchen Krankenhäuser und Waisenhäuser, um vor Ort zu sehen, was die Menschen dringend brauchen. Ihre Ankunft in Bila Zerkwa spricht sich ganz schnell herum, und die Menschen kommen ins Hotel und bitten die Novotnys um Hilfe. Ruslan Scherstjuk geniert sich, die Deutschen um Hilfe zu bitten, aber ihm bleibt keine andere Wahl, wenn er das Leben seiner Tochter retten will.

Peter Novotny verspricht den verzweifelten Eltern, zu tun, was in der Macht der Stiftung liegt. "Das Elend, dass wir hier immer wieder zu sehen bekommen, ist erschütternd. Und es zeigt uns, wie wichtig unsere Arbeit, unser Engagement und die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland, die uns bei unserer Arbeit unterstützen, sind. Diese Menschen sind so bitter arm. Sie brauchen unsere Hilfe aus Deutschland", sagt Peter Novotny.

Umso zuversichtlicher macht ihn das Gespräch am Tag zuvor in Kiew mit dem ukrainischen Gesundheitsminister Zynoviy Mytnyk. 45 Minuten hat sich der Minister Zeit genommen, um die Novotnys zu empfangen. Die Stiftung will eine Knochenmarksspender-Datei für Bila Zerkwa aufbauen, damit Kindern wie Katja besser geholfen werden kann. "Ihre Pläne sind sehr wichtig für unser Land. Unsere medizinischen Bedingungen sind sehr schlecht."

Der Abgeordnete des ukrainischen Parlaments Gennadij Samofalov fügt hinzu "Leider ist die Ukraine der Staat, der am meisten unter dem Supergau von Tschernobyl gelitten hat. In diesem Land hat niemand die Garantie, dass ihn der Krebs nicht trifft. Wir müssen jetzt aktiv werden." Einen ersten Anlauf habe die Regierung bereits in Kiew gemacht, so der Gesundheitsminister. Eine deutsche und österreichische Firma seien bereit, in der Ukraine zu investieren, um ein Knochenmark-Transplantationszentrum zu bauen. Und Minister Mytnyk gibt Peter Novotny die feste Zusage, das neue Projekt der Stiftung zu unterstützen. Samofalov: "Uns ist die Zusammenarbeit mit Ihrer Stiftung sehr wichtig, denn wir wissen, dass wir sehr viel tun müssen für unsere krebskranken Kinder." Dann verabschiedet sich der Minister.

Dieses Gespräch sei ein großer Schritt für die Bemühungen der Stiftung, so die Novotnys nach dem Besuch im Ministerium. "Wir haben zum ersten Mal eine konkrete Zusage zur Unterstützung unseres Engagements in Sachen Leukämie bekommen. Und diese Zusage kommt von höchster Ebene. Das macht mich zuversichtlich, dass wir es schaffen können, eine Datei aufzubauen, mit der das Leben vieler Kinder und Erwachsener gerettet werden kann", sagt Peter Novotny, der noch am selben Tag die deutsche Botschaft von dem erfolgreichen Gespräch unterrichtet.

Katja braucht jetzt Hilfe, und die Lüneburger Stiftung ist ihre einzige Hoffnung, wie für viele krebskranke Kinder in Bila Zerkwa. Katja und ihre Eltern verabschieden sich von André und Peter Novotny. Wenige Meter vom Hotel entfernt wartet Bürgermeister Sawtschuk in seinem Amtszimmer im ersten Stock des Rathauses, das so weiß wie die Kirche, die Namensgeberin der Stadt ist. Bila Zerkwa heißt übersetzt: weiße Kirche.

Sawtschuk wird Peter Novotny die Ehrenbürgerschaft der Stadt überreichen. "Sie, lieber Peter Novotny, sind der 13. Ehrenbürger und der erste Ausländer, dem hier die Ehrenbürgerschaft verliehen wird. Sie und Ihre Frau Helga Novotny haben in den letzten Jahren so viel für die Menschen unserer Stadt getan, dass der Stadtrat einstimmig beschlossen hat, Sie zu ehren. Es ist für die Menschen unserer Stadt so wichtig, dass Sie in Ihrem Land den Menschen sagen, wie es hier aussieht. Ihr Engagement und die Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland ist wichtig für uns", sagt Sawtschuk.

Morgen lesen Sie: wie die Stiftung Hof Schlüter das Auffanglager für Kinder unterstützt.