Bergedorf. Die Bergedorferin Claudia Cardinal (68) hat ihr achtes Sachbuch vorgelegt. Und will erzählerisch über Demenz informieren.

Viele Familien ereilt dieses Schicksal. Doch kaum eine ist vorbereitet, wenn es sie trifft: Etwa 1,8 Millionen Menschen in Deutschland leben laut Alzheimer Gesellschaft mit einer Demenzerkrankung – oft eine schwere Bürde für alle Beteiligten. Und auch wenn die Ratgeber dazu bereits viele Ladenregale füllen: Die Bergedorferin Claudia Cardinal wagt mit ihrem neuen Buch nun einen ganz anderen Ansatz.

Die Autorin und Sterbeamme legt mit „Die Insel der Vergesslichen“ (Verlag Mainz, 18 Euro) bereits ihr achtes Sachbuch vor. Und wie in ihren vorherigen Werken, die sich mit Themen wie Tod, Abschied und Trauerkultur beschäftigen, reiht sich die Expertin auch diesmal nicht in die Riege derer ein, die das Thema Demenz mit Schwere und Angst betrachten. Sondern sie versucht, Mut zu machen. Und eine Geschichte zu erzählen.

Claudia Cardinal aus Bergedorf: Ein neues Buch über Demenz

„Unsere Gesellschaft ist so aufgeklärt, so vernunftorientiert“, stellt die 68-Jährige fest. „Doch es gibt kein geistiges Weltbild mehr.“ Ein Mensch aber sei viel mehr als sein IQ. Auch wenn der Verstand schwinde, gebe es „noch genug Wahrnehmungsorgane“, um den Betroffenen zu erreichen.

Hauptberuflich begleitet die Bergedorferin als Sterbeamme schon seit vielen Jahren Patienten und Angehörige auf ihren Wegen – und wird dabei oft mit dem Thema Demenz konfrontiert. „Ganz häufig ist das Thema zumindest im Hintergrund vorhanden“, sagt sie. So entstand die Idee zu dem Buch. Sie begann, über Demenz zu recherchieren, sprach mit Betroffenen und Angehörigen, mit Ärzten, wirkte bei einem Online-Kongress mit. Und überlegte sich dann, wie sie Daten, Fakten und Gefühle zusammenfassen kann, und das auch noch so, „dass es nicht langweilig wird“.

Die Figur Anja lernt alles über die Krankheit

Entstanden ist eine fiktive Frau namens Anja, die sich aus vielen Facetten echter Menschen zusammensetzt. Claudia Cardinal beschreibt Anja als eine 45-jährige alleinstehende Frau, die tragische Demenzfälle in ihrer Familie zu beklagen hatte – auch bei jüngeren Menschen – und die sich nun schrecklich vor der Krankheit fürchtet. Bis sie beginnt, genauer zu dem Thema zu recherchieren.

Anja lernt etwas über die Angst selbst, über mögliche Ursachen von Demenz, über Behandlungswege. Sie grübelt über Risikofaktoren, fragt sich, ob sie zu viele Süßigkeiten isst, ob sie abnehmen sollte. Und stellt am Ende ihrer langen und tiefen Recherche fest, dass sie zwar immer noch ganz viele Fragen hat, sogar mehr noch als zuvor. Dass sie aber keine Angst mehr hat. „Wahrscheinlich sollte sie erst einmal das Leben ausschöpfen“, schreibt Claudia Cardinal.

Erzählung, Information und Gedankenschnipsel aneinandergereiht

Wie in ihren vorherigen Büchern benutzt Claudia Cardinal auch in „Die Insel der Vergesslichen“ eine ganz eigene Stilform. Sie lässt die Figur Anja über ihre Recherche nachdenken, reiht dabei aber erzählerische Passagen, medizinische Informationen, Zitate und Gedankenschnipsel aneinander. 15 Kapitel mit noch mehr Unterkapiteln gibt es – und Claudia Cardinal ist „selbst erstaunt, wie lang das Buch geworden ist“, wie sie schmunzelnd sagt.

"Die Insel der Vergesslichen" von Claudia Cardinal aus Bergedorf © Christina Rückert | Christina Rückert

Doch es gibt nicht nur viele Fakten über Demenz, es kann auch philosophiert werden darüber, was der (teilweise) Verlust des Verstandes bedeuten und wie er vonstatten gehen kann. Anja fragt sich am Ende des Buches, ob sich manche Erkrankte vielleicht auch „in die Demenz retten“, ob sie ihren Verstand wie alte Schuhe ablegen, weil ihnen das „Fernsehprogramm“ des Lebens zu laut geworden ist. Oder weil sie sich verloren fühlen. Für Claudia Cardinal erwächst daraus auch eine Verantwortung der Gesellschaft. „Der Cocktail, der aus Enttäuschungen, Schweigen, Druck, Missachtung und Ausgrenzung entsteht, ist von allen lebenden und vorher lebenden Menschen zusammengemixt worden“, schreibt sie.

Doch was es auch ist, was letztlich diese vielschichtige und facettenreiche Krankheit auslöst: Die Figur Anja entschließt sich am Ende des Buches, einen Tangokursus zu belegen und Französisch zu lernen – und ihr Leben ohne Angst zu leben.