Bergedorf. Viel Kaisertreue und Fürstenlob – aber auch viele lokale Anekdoten: Blick in die „Bergedorfer Zeitung und Anzeiger“ von 1878.

Kein geringerer als Fürst Otto von Bismarck war die große Persönlichkeit in den Schlagzeilen der ersten Ausgaben unserer Zeitung vor 150 Jahren – neben dem Kaiser natürlich. Das älteste Exemplar mit dem Titel „Bergedorfer Zeitung und Anzeiger“ im Archivkeller stammt aus dem Jahr 1878. Es ist als kompletter Band mit dem Hinweis „Elfter Jahrgang“ im Titelkopf erhalten und bietet beim Durchblättern eine ganze Reihe lokaler und überregionaler Fundstücke.

Darunter sind Verurteilungen durch das Polizeigericht, fast wörtlich nacherzählte Sitzungen des Magistrats der damals eigenständigen Stadt Bergedorf, Großbrände, mancher typisch kleinstädtischer Aufreger und ganz viel Otto von Bismarck. Denn der Reichskanzler war sieben Jahre zuvor prominenter Nachbar Bergedorfs geworden, als Kaiser Wilhelm I. ihm am 24. Juni 1871 den Sachsenwald geschenkt und den Grafen von Bismarck auch gleich noch in den Fürstenstand erhoben hatte. Hintergrund: Der „Eiserne Kanzler“ war maßgebliche Triebfeder der Gründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1871.

Eine Tageszeitung, vier Seiten dünn, aber mit bis heute beeindruckenden Anzeigen

Doch von der großen Politik erst mal zurück zur kleinen Bergedorfer Lokalzeitung, die damals schon „täglich außer montags“ erschien. Auf ihren gewöhnlich nur vier Seiten brachte sie ihren Lesern vor allem eine „Politische Übersicht“ aus der Hauptstadt Berlin, zudem „Telegrafische Mitteilungen“ aus aller Welt sowie wenigstens eine komplette Seite mit Anzeigen, deren Zeichnungen uns bis heute einen Eindruck etwa von den vor 150 Jahren angesagten Damen-Frisuren oder den zu Weihnachten 1878 angebotenen Kinderwagen vermitteln.

Anzeige vom Friseur-Geschäft Bode aus der Kampstraße in Bergedorf im Dezember 1878.
Anzeige vom Friseur-Geschäft Bode aus der Kampstraße in Bergedorf im Dezember 1878. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Hinzu kam die Rubrik „Lokales“, die immerhin schon rund eine halbe Seite täglich umfasste. Diese lokalen Berichte bezogen sich allerdings oft auf Hamburg und seine damaligen Nachbarstädte Altona und Wandsbek, wo offenbar weit mehr passierte, als im kaum 4000 Einwohner zählenden Bergedorf. So sah es jedenfalls Herausgeber Friedrich Bleidorn, der seit der Übernahme der „Wandsbeker Zeitung“ 1873 zudem unsere Kleinstadt verlassen hatte und dorthin übergesiedelt war. Umgesetzt wurde das vom 1874 eingestellten Bergedorfer Filialleiter Carl Eduard Wagner, der neun Jahre später die Bergedorfer Zeitung übernehmen und ganz neue Akzente setzen sollte.

Umzug aus dem Hinterhof an die „Große Straße gegenüber der Kirche“

Gedruckt wurde die 1878 vermutlich wenige Hundert Exemplare kleine Auflage in einer winzigen Werkstatt am Kuhberg nahe dem heutigen Wiebekingweg. Eine Hinterhof-Lage, die allerdings am 12. Oktober Vergangenheit war, wie an diesem Tag in dicken Buchstaben auf dem Titel verkündet wurde: „Die Expedition dieser Zeitung befindet sich von heute ab: Große Straße 3, gegenüber der Kirche“.

Damit rückte die Zeitung in die Mitte Bergedorfs – und das zu einem Zeitpunkt des rasanten Aufstiegs der ganzen Stadt: Die einsetzende Industrialisierung zog Fabriken an den Rand der Handelsstadt Hamburg, ließ die Einwohnerzahl Bergedorfs und seines Arbeitervororts Lohbrügge jedes Jahr um Hunderte, schließlich sogar um mehr als tausend Menschen wachsen. Werke wie die Stuhlrohrfabriken, die Actien-Brauerei, das Eisenwerk und selbst eine Knopffabrik mit mehr als 150 Mitarbeitern ließen die Stadt Bergedorf zu einem selbstbewussten Nachbarn Hamburgs werden.

Alles das begleitete die Bergedorfer Zeitung. Und vermutlich wagte sie mit dem Umzug an die „Große Straße gegenüber der Kirche“ schon im Herbst 1878 auch selbst den Sprung vom sprichwörtlichen Ein-Mann-Betrieb als bloße Außenstelle ihres Wandsbekers Verlegers zu einem Bergedorfer Unternehmen mit den ersten festen Angestellten neben Filialleiter Carl Eduard Wagner.

Konservative Zeitung mit Vorliebe für den Monarchismus

Politisch positionierte sich die frühe Bergedorfer Zeitung klar konservativ, ja geradezu monarchistisch. Das zeigen die turbulenten Entwicklungen des Jahres 1878 überdeutlich: Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. setzt Reichskanzler Otto von Bismarck sein lange geplantes Verbot der Sozialdemokratie samt aller Gewerkschaften durch. Es gelingt Bergedorfs prominentem Nachbarn, die Schuld an den Anschlägen den aufstrebenden Arbeitervertretungen in die Schuhe zu schieben – obwohl die Attentäter nachweislich nichts mit ihnen zu tun hatten und erst recht nicht von ihnen angestiftet wurden. Dennoch wurde das sogenannte Sozialistengesetz vom Reichstag im Oktober 1878 beschlossen. Das Verbot sollte insgesamt zwölf Jahre in Kraft bleiben.

Erster deutscher Kaiser:  Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen oder Wilhelm I. (1797-1888),
Erster deutscher Kaiser: Wilhelm Friedrich Ludwig von Preußen oder Wilhelm I. (1797-1888), © picture alliance / imageBROKER | dpa Picture-Alliance / H.-D. Falkenstein

Die Bergedorfer Zeitung kommentierte das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ so: „Fürst Bismarck hat wohl, als er den idealen Staat der Sozialisten ein ,großes Zuchthaus’ nannte, die einzig zutreffende Bezeichnung für jenes wunderlichste aller Luftschlösser gewählt. Der sozialistische Staat wird der Polizeistaat, die Diktatur in der krassesten Form sein. Es wird nur eine Klasse in demselben geben: Sklaven.“

Von der Polizei „in Sicherheit gebracht, um ihren Rausch auszuschlafen“

Neben der großen Politik lieferte die Bergedorfer Zeitung anno 1878 den Lesern aber auch einigen Gesprächsstoff aus ihrer Stadt. So heißt es über eine Prügelei unter Jugendlichen, die hätten sich bei einer Versammlung „im Genusse von Spirituosen des Guten zu viel getan und waren schließlich in Streit geraten. Wodurch in der Holstenstraße ein Auflauf entstand, sodass die Polizei einzuschreiten gezwungen war. Da mehrere den Anordnungen der wirklich gelinde genug auftretenden Polizeioffizianten sich widersetzten, wurden sie in Sicherheit gebracht, wo ihnen wohl Zeit genug gegönnt wird, ihren Rausch auszuschlafen“.

Im Dezember wird in unserem Blatt dazu aufgerufen, die Vögel zu füttern: „Die gefräßigen Insekten, welche dem Menschen so vielen Schaden tun, sind verschwunden. Und der Vogel, der jenen sonst fleißig nachstellt, ist auch angewiesen dort Nahrung zu suchen, wo der Mensch in seiner Umgebung ihm den nötigen Stoff bietet. Darum versäumt nicht, die Speisereste an geeigneten Stellen niederzulegen. Sie werden bald gefunden werden und der Lohn für die kleine Mühe wird überreichlich erstattet durch die Reinhaltung der Gärten und Felder, wenn im Frühjahr das nagende Ungeziefer wieder seinen Einzug hält.“

Als die „Hamburger Zeitung“ bei der Konkurrenz aus Bergedorf abschrieb

Scharfe, wenn auch halb ironische Kritik äußerte die Redaktion an der „Hamburger Zeitung“, die offenbar regelmäßig Artikel aus der Bergedorfer Zeitung abschrieb: „Wir können freilich nichts dagegen sagen, wenn die von uns ausgesprochenen Ansichten – zum Beispiel neuerdings etwas über die Gewerbeschule für Mädchen – so sehr die Billigung der geehrten Redaktion der ,Hamburger Zeitung’ finden, dass die Artikel wortgetreu abgedruckt werden. Indes sind uns infolgedessen wiederholt zugegangene Anfragen unserer Mitarbeiter unangenehm, welche zu wissen wünschen, ob die Erlaubnis zum Abdruck gegeben wurde. Die geehrte Redaktion der ,Hamburger Zeitung’ wird aus diesen Gründen vielleicht Veranlassung nehmen, künftig ihre eventuelle Übereinstimmung zu erkennen zu geben.“

Einen Einblick auf den Viehmarkt am Brink gibt ein Bericht vom September: „Der heutige Viehmarkt war nicht besonders belebt. In Pferden, die nur in kleiner Anzahl und sehr geringer Qualität vorhanden, war der Handel ganz unbedeutend. Kühe waren sehr zahlreich vertreten, jedoch auch darin war der Handel nur schwach. Der Haupthandel fand wie immer in Schweinen statt, die jedoch über Bedarf zugeführt waren und deshalb auch nur niedrige Preise erzielten.“

Großbrand in Lohbrügge, weil „die Strohdächer viel Zündstoff boten“

Ein Großbrand erschütterte am 21. August Lohbrügge: „Am Nachmittag wurde unser Nachbarort von einem großen Brandunglück betroffen, durch welches die Bauernhöfe der Herren Schmidt und Sammann und vier Katen eingeäschert wurden. Das Feuer griff bei starkem Winde und durch die zum großen Teil schon eingebrachten Erntevorräte reichliche Nahrung findend mit rasender Schnelligkeit um sich, wobei die Strohdächer dem Flugfeuer viel Zündstoff boten. Auch ein großer Teil des Mobiliars sowie ein Pferd und ein Schwein wurden leider ein Raub der Flammen. Aus dem Bergedorfer Eisenwerk eilten bei dem ersten Feuersignal auf Anordnung des Chefs der Fabrik sämtliche Arbeiter zur Hilfsleistung. Außer der Lohbrügger Spritze waren in Tätigkeit eine aus Sande, eine aus Reinbek und aus Bergedorf die beiden erst kürzlich neu angeschafften, welche sich ausgezeichnet bewährten.“

Kinderwagen-Mode anno 1878: Eine Anzeige vom Dezember in der „Bergedorfer Zeitung und Anzeiger“.
Kinderwagen-Mode anno 1878: Eine Anzeige vom Dezember in der „Bergedorfer Zeitung und Anzeiger“. © BGZ | Ulf-Peter Busse

Berichtet wird im Juni vom Gauturnfest der Bergedorfer Vereine: „Das Fest, vom schönsten Wetter begünstigt, verlief in der herkömmlichen Weise: Die von Hamburg mit einen Extrazug am Nachmittag kommenden Turner wurden von dem hiesigen Verein am Bahnhof empfangen und zogen dann durch Hauptstraßen, welche durch Flaggen- und Girlandenschmuck ein recht festliches Gewand angelegt hatten. Dann ging es hinaus nach dem Gehölz, wo im sogenannten Schließtal das Schauturnen stattfand. Es hatten sich ungewöhnlich viele Zuschauer eingefunden, was wir gern als ein Zeichen ansehen wollen, dass alle früher bestehenden Vorurteile immer mehr schwinden und das Interesse am Turnen ein regeres und größeres wird.“

Sechs Tage Haft für Dienstmädchen „wegen Entlaufens aus dem Dienst“

Immer gern gelesen wurden auch 1878 schon Gerichtsberichte aus Bergedorf. Am 18. Mai gab es gleich fünf Urteile: „Das Polizeigericht verurteile in heutiger Audienz den schon mehrfach bestraften Zimmermann Johann Matthias Carl Dubber aus Bergedorf wegen Betrugs, Hausfriedensbruchs im Rückfall und grobem Unfugs zu sechs Wochen Gefängnis und 14 Tagen Haft; das Dienstmädchen Regine Paprotka aus Ostpreußen wegen Entlaufens aus dem Dienst zu sechs Tagen Haft; den Schuhmachermeister Gerwe aus Bergedorf wegen Schuldversäumnis seines Sohnes zu 3 Mark Strafe; den Arbeiter Franz Martens aus Mühlenrade wegen Bettelns zu sechs Tagen Haft und den Schlachtergesellen Hinrichsen aus Trittau wegen Betrugs und Unterschlagung zu zwei Monaten Gefängnis.“

Der Glatteisunfall des Bergedorfer Polizisten bringt Ende Januar 1878 sogar Bürgermeister Heinrich Oldenburg in Schwierigkeiten, wie unsere Zeitung berichtet: „Gestern traf den hiesigen Polizeisergeanten Herrn Wesselhorst das Unglück in der Sachsenstraße beim Übertreten vom Bürgersteig auf die Fahrstraße auszugleiten, zu fallen und ein Bein zu brechen. Er wurde zunächst nach der Polizeiwache gebracht, wo ihm der erste Verband angelegt wurde, und dann nach Hause transportiert. Für die Bürogeschäfte des Herrn Bürgermeisters ist mit diesem sehr beklagenswerten Unfall auch eine nicht unerhebliche Störung verbunden, der der seit längerer Zeit erkrankte Registrator zum Teil durch den Verunglückten ersetzt wurde und sie sonstigen Beamten bekanntlich nicht im Überschusse vorhanden sind.“

Natürlich durfte neben dem Lokalen auch der Kaiser in der Bergedorfer Zeitung nicht fehlen. Zum 82. Geburtstag von Wilhelm I. gibt es gleich zum Einstieg einen langen Artikel, der die Lebensgeschichte des „großen Monarchen“ erzählt und ihn nach Kräften hochleben lässt. Besonders kaisertreu zeigt sich unser Blatt dann auch in seinem Kommentar zum Attentat vom 2. Juni 1878 und sieht – wie das große Vorbild Fürst Bismarck – die Schuld daran eindeutig bei der Sozialdemokratie: „Wie tief muss die Moral in gewissen Klassen der Bevölkerung gesunken sein, dass aus ihnen Auswüchse entstehen, den das erhabenste Gefühl der gesamten Bevölkerung unseres Vaterlandes, ja der gesamten zivilisierten Erde nichts gilt, denen die innige Verehrung alle für unseren Kaiser nicht mächtig genug ist, um die mörderische Handzurückzuhalten, die sich zu solcher Schandtat erhebt. Grauen und Entsetzen über die eingerissene Verwilderung in jenen Volksschichten bilden das einzige Gefühl, das solch unerhörtem Verbrechen gegenüber zu empfinden ist.“