Boston/Berlin. Vor acht Jahren sprach Norman zuletzt mit seinem obdachlosen Vater. Er startete einen Twitter-Aufruf – und bekam einen heißen Tipp.

Wann genau sein Vater untertauchte, weiß Norman auch nicht mehr so genau. „Ich muss 14 gewesen sein“, schätzt er. Sein Vater hatte einen Unfall, konnte nicht mehr als Dachdecker arbeiten. Klaus, so sein Name, fing mit dem Trinken an. „Mit meiner Mutter gab es immer mehr Stress, bis es dann zur Trennung kam“, sagt Norman am Telefon im Gespräch mit unserer Redaktion.

Zu Weihnachten hatte Norman auf Twitter einen Aufruf gestartet, um seinen Vater zu finden. „Das hier fällt mir schwer, aber vielleicht kann Twitter helfen“, schrieb er dort. „Ich suche meinen Papa. Er ist obdachlos und soll in Hamburg leben.“

Dazu postete er ein Foto, das er vor etwa einem Jahr von einem Unbekannten, der sich Alex nannte, zugeschickt bekam. Es soll Klaus zeigen. „Ein Retweet würde helfen“, schrieb Norman. Es wurden Zehntausende.

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Dass Normans Vater noch lebte, glaubte niemand mehr

Eigentlich hatte er sich schon damit abgefunden, dass sein Vater tot wäre. Nach seinem Auszug hätten sich beide noch getroffen, erzählt Norman. Nachdem seine Mutter Unterhalt gefordert hatte, sei er abgetaucht. Irgendwann seien auch die Telefonanrufe immer weniger geworden, bis sie gar nicht mehr kamen. Norman fragte sich: „Wie kann eine Person für so lange Zeit komplett verschwinden, und niemand weiß, wo sie ist?“

Der letzte Anruf kam vor etwa acht Jahren, zu seinem 16. Geburtstag. Wie schon das Jahr zuvor gratulierte ihm sein Vater. Wieder einmal war er betrunken. An seinem 17. Geburtstag – und auch die Jahre danach – blieb das Telefon aber stumm. „Je länger er sich nicht gemeldet hatte, desto mehr wurde uns klar, dass er nicht mehr am Leben sein kann“, sagt der heute 24-Jährige, der seit März als Au-pair in Boston arbeitet.

Seine Mutter hat sich ein neues Leben aufgebaut

Mit seiner Mutter redet Norman nicht über Klaus. Die Zeit damals sei nicht einfach für sie gewesen. Sie sei alleinerziehend gewesen, habe „wie ein Tier gearbeitet, um uns irgendwie durchzubekommen“, erzählt er. Noch heute sei er davon beeindruckt, wie seine Mutter das alles geschafft habe, wie sie damit klarkommen musste.

Mittlerweile hat sie einen komplett anderes Leben. Sie habe ein neues Haus, einen neuen Freund. „Ein neues Alles“, sagt Norman. Klaus sei kein Thema mehr für sie. „Sie spricht nicht gerne über ihn.“

Von seinem Aufruf auf Twitter hat sie von seinem drei Jahre älteren Bruder erfahren. „Sie findet das okay, dass ich das mache. Aber sie versteht nicht, warum ich das mache. Und ich verstehe, warum sie das nicht versteht.“

Plötzlich meldet sich Alex bei ihm

Wenn Norman über seinen Vater spricht, klingt er nicht so, als wäre er sauer auf ihn. Er versteht, dass sein Vater alkoholkrank ist und viele Probleme der Sucht geschuldet sind. Trotzdem habe er sich nach dem plötzlichen Verschwinden Vorwürfe gemacht: „Aber ich war ja noch ein Kind.“

Zu Weihnachten startet Norman dann seinen Aufruf auf Twitter, wo er Tausende Follower hat. Er sitzt gerade im weit entfernten Boston, denkt an seine Familie. Und an seinen verschwundenen Vater. Er erinnert sich daran, wie er vor etwa einem Jahr plötzlich von jenem Alex angeschrieben wurde, der ihm unverhofft ein Foto von Klaus schickte.

„Da war so ein Funke Hoffnung“

Normans Vater muss wahllos Leute auf der Straße in Hamburg angesprochen und sie gefragt haben, ob sie nach seinen Söhnen suchen und sie kontaktieren könnten. Dabei stieß er offenbar auf Alex. „In meinem Kopf war mein Vater nicht mehr am Leben – und plötzlich war er das wieder“, sagt der 24-Jährige heute.

Doch die Hoffnung, seinen Vater nach all den Jahren zu sprechen, seine Stimme auch nur für einen Moment zu hören, wurde jäh zerstört. Alex habe sich nicht mehr gemeldet. „Da war so ein Funke Hoffnung – und plötzlich war alles wieder weg.“

Negative Reaktionen auf Twitter

Auf Twitter erntet Norman nicht nur positive Reaktionen mit seiner Suchaktion. Viele Nutzer glauben ihm seine Geschichte nicht, beleidigen ihn und überziehen ihn mit Hohn. „Ich hab den, glaub’ ich, mal im Obdachlosenheim gesehen, wie er über seinen Sohn gelästert hat“, schreibt einer. Andere Nutzer bezeichnen Norman als „übergriffig“, bezichtigen ihn, seinem Vater „einen Twitter-Mob auf den Hals“ zu hetzen.

Norman hatte mit negativen Kommentaren gerechnet, weil er sich mit dieser persönlichen Geschichte angreifbar gemacht hat. Auch schon vorher sei ihm das häufig passiert, weil er als offen schwul lebender Mann, der politisch links eingestellt ist, bestimmten Nutzern eine gewisse Angriffsfläche bietet: „Wenn du dem Internet die Chance gibst, dich zu verletzten, dann passiert genau das.“

Neue Hoffnung keimt auf

Doch die positiven Kommentare überwiegen. Fast 20.000 Mal wurde sein Beitrag mittlerweile geteilt. Und für jeden Hasskommentar bekomme er 20 bis 30 positive, sagt Norman gerührt. „Es sind nur Worte im Internet, aber das hilft.“

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von X, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Auch bei der Suche nach seinem Vater hat er mittlerweile eine vielversprechende Spur. Nachdem über seine Geschichte in zahlreichen Medien berichtet wurde, habe sich ein Mann aus Hamburg bei ihm gemeldet, der sein Büro über einer Hamburger Tankstelle habe, wo sein Vater schlafe – angeblich.

„Jetzt warte ich auf seinen Anruf“

Der Mann kenne Klaus schon sehr lange, berichtete er Norman, er sei jeden Tag betrunken. Im Gespräch habe er Norman Sachen erzählt, die er von Klaus erfahren haben will. Dass er auf einem Auge blind sei, dass er Dachdecker gewesen sei. „Das sind Dinge, die niemand im Internet weiß, weil ich die nie erzählt habe“, sagt Norman. „Da wusste ich: Das kann nur mein Papa sein.“

Sobald der Mann Klaus wiedersieht, will er ihm sein Handy geben, damit er Norman anrufen kann. Jeden Moment könnte es soweit sein. „Jetzt warte ich auf seinen Anruf“, sagt Norman.

(Nachtrag: Mittlerweile hat Norman mit seinem Vater gesprochen, wie Sie hier nachlesen können.)