Im Norden fehlen ausgebildete Fachkräfte, um Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu unterrichten. Von den 260.000 Schülern an schleswig-holsteinischen Regelschulen haben etwa vier Prozent einen Förderbedarf.

Kiel. Die Zahlen sehen gut aus. 9500 behinderte Schleswig-Holsteiner besuchen mittlerweile Regelschulen, nur 6500 werden in Förderzentren unterrichtet. Das Ziel, das sich das Land gestellt hat, scheint näher zu rücken. Möglichst alle Kinder sollen unabhängig von ihren Handicaps einen ganz normalen Schulalltag haben. Der Fachbegriff heißt Inklusion: Behinderte lernen gemeinsam mit Nichtbehinderten, und beide profitieren davon.

Doch nun gibt es Zweifel, ob die nackten Zahlen wirklich eine erfreuliche Realität widerspiegeln – und erste Versuche, das gemeinsame Lernen an möglichst vielen Schulen wieder einzuschränken. Ulrich Hase, der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, spricht von „Inklusionsverlierern“. Die Schulen müssten besser auf das Thema vorbereitet werden, mahnt er. Und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert 1000 zusätzliche Lehrerstellen. „Die Lehrer leiden unter zermürbenden Arbeitsbedingungen“, sagt der GEW-Landesvorsitzende Matthias Heidn. „So wie bisher geht es nicht weiter.“ Das ist offenbar auch der Bildungsministerin Waltraud Wende (parteilos) klar geworden. Sie will im Frühjahr ein Inklusionskonzept vorlegen. Offenbar will sie besonders im Bereich Weiterbildung aktiv werden. „Guter inklusiver Unterricht braucht entsprechend ausgebildete Lehrkräfte“, sagt sie.

Von den 260.000 Schülern an schleswig-holsteinischen Regelschulen haben etwa vier Prozent (9500 Kinder und Jugendliche) einen Förderbedarf. Dahinter verbergen sich ganz unterschiedliche gesundheitliche Probleme: Rollstuhlfahrer, Sehbehinderte, Gehörlose, Menschen mit psychischen Probleme. Jeder Schüler bedarf einer individuellen Förderung. „Damit sind die Lehrkräfte oft überfordert“, sagt der GEW-Geschäftsführer Bernd Schauer. Sogenannte Doppelbesetzungen sollen helfen. Das heißt: Zu dem regulären Lehrer gesellt sich ein Kollege mit einer sonderpädagogischen Ausbildung. Wie viele Stunden er in der Klasse ist, hängt aber vom Grad der Behinderung des Schülers ab – und davon, wie viele Kinder mit Förderbedarf es in der Klasse gibt. „Da müsste die Stundenzahl auf jeden Fall aufgestockt werden“, sagt Bernd Schauer. Deshalb die GEW-Forderung nach 1000 zusätzlichen Lehrerstellen. Dass sie umgesetzt wird, scheint jedoch wenig realistisch. Das Land Schleswig-Holstein ist hoch verschuldet und muss in den Jahren bis 2020 Personal abbauen, um ab jenem Jahr ohne neue Schulden auskommen zu können.

Aber bei der Organisation kann offenbar noch einiges verbessert werden. So berichtet der Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, dass ein Schüler wochenlang nicht zum Unterricht kommen konnte, weil der Helfer, der ihn auf dem Schulweg begleitet, erkrankt war. „Ersatz gab es nicht“, sagt Dirk Mitzloff, der Pressesprecher des Landesbeauftragten. „Hier fehlt eine klare Vereinbarung zur Finanzierung.“

Auch fehle es an Unterstützung in den Pausen. „Wenn es da Schwierigkeiten gibt, zum Beispiel mit anderen Jugendlichen, dann ist der Schüler auf sich gestellt“, sagt Mitzloff. Dass Schleswig-Holstein bei der Integrationsquote von Schülern bundesweit an der Spitze liege, sei ja erfreulich. „Eine Aussage zur Unterrichtsqualität ist damit nicht getroffen“, so Mitzloff. Fazit: „Es fehlt die fachliche Vorbereitung der Lehrerschaft.“

Auch unterschiedliche Zuständigkeiten behindern die Inklusion. Für die Schulbegleiter, die auch im Unterricht anwesend sind, um zum Beispiel eine Spritze zu geben, sind die Kreise und Städte zuständig. „Deren Qualifikation ist aber sehr unterschiedlich“, sagt GEW-Mann Bernd Schauer. Zudem sind sie nur für ein Kind mit Förderbedarf zuständig und dürfen sich um andere Kinder nicht kümmern – was dazu führt, dass bei drei behinderten Schülern manchmal drei Helfer in der Klasse sind, obwohl einer reichen würde.

Um die Situation zu erleichtern, wird nun wieder über Schwerpunktschulen nachgedacht – also über eine nur noch halbherzige Inklusion. Der Behindertenbeauftragte Ulrich Hase sieht darin einen möglichen Weg. Gerade im ländlichen Raum liegen die Vorteile auf der Hand. Eine Regelschule in einer größeren Region, die alle die Kinder mit Förderbedarf aufnimmt, kann eine umfangreichere sonderpädagogische Betreuung bieten. Und sie kann Problemen in der Pause vermutlich besser begegnen als eine Schule, die nur ein Kind mit Förderbedarf hat.

Die Opposition im Kieler Landtag teilt derartige Überlegungen. „Wir brauchen Schulen, die eine intensive Förderung durch Sonderpädagogen auch in Kleingruppen anbieten“, sagt Heike Franzen, die bildungspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion. „Das kann nicht an jeder Schule geleistet werden. Es wäre ein erster Schritt, wenn die Regierungskoalition das einräumen würde.“