Blüte der Wohnungsnot: Für 175 Euro im Monat bewohnen und bewachen sechs Studenten eine alte Chemiefabrik. Prinzip stammt aus Niederlanden.

Hamburg. Zum Duschen muss Christopher Gardel in den Keller, einen langen Flur entlang und dann in eine Art Mannschaftswaschraum. Alles ist schön grau durchgefliest. An den Decken hängen Neonröhren. Darunter: alte Blechspinde, drei Waschbecken, drei Duschen. Dazu Zahnbürsten, Handtücher, ein Wust aus Klimbim. Es sieht aus wie bei Klassenfahrten früher. "Ja", sagt Christopher. "Viele fühlen sich an eine Jugendherberge erinnert." Man muss das mögen.

Christopher Gardel ist 23 Jahre alt, trägt eine dunkel gerahmte Brille, einen dieser modernen Oben-lang-Seiten-kurz-Haarschnitte, ist eloquent, einigermaßen solvent und hat sich auch sonst nichts vorzuwerfen. Aber einfach so nach Hamburg ziehen? Problemlos eine Wohnung finden? Die Zeiten sind vorbei. Die Mietpreise stiegen in den vergangenen fünf Jahren um 20 Prozent, bezahlbarer Wohnraum ist knapp. Im Sommer stand Christopher auf langen Wartelisten für eine Bleibe. Doch auf dem abgegrasten Markt war nicht mal ein WG-Zimmer zu finden.

Jetzt ist er einer der ersten Hauswächter der Stadt, residiert auf einem 15.000-Quadratmeter-Grundstück, blickt auf eine viel befahrene Eisenbahnstrecke und auf eine Armada Industrietanks. Früher wurden hier, in der Chemiefabrik Bosig an der Ottensener Straße, Harze und Lacke produziert. Jetzt ist es das Zuhause von sechs jungen Menschen. Für seine Bleibe zahlt Christopher 175 Euro warm im Monat. 28 Quadratmeter, Linoleumboden, vier Fenster, fünf Neonlampen, eine große schwarze Couch - das ist sein Reich. Allgemeingut sind 30 Meter lange Flure, 30 Quadratmeter Küche, die ehemaligen Arbeiterduschen im Keller und das üppige Grundstück. Christopher lebt gerade den Traum aller Industrieromantiker. Im Verwaltungstrakt einer leer stehenden Fabrik.

Dafür hat er einen Pakt mit der Firma Camelot geschlossen. Er wohnt nicht nur im Haus, er muss es auch bewachen, Präsenz zeigen, Pflichten erfüllen. Seine Mitstreiter und er sollen das Haus vor Vandalismus, illegaler Müllentsorgung, zwielichtigen Partys oder auch ordinärer Besetzung schützen. Zweimal am Tag drehen sie eine Runde über das Gelände.

Als Gegenleistung dürfen sie günstig darin wohnen. Deshalb zahlt Christopher keine Miete, sondern eine Verwaltungsgebühr. Deshalb darf er im Haus nicht rauchen, keine Kerzen anzünden, keine Partys feiern, muss Besuch von mehr als zehn Leuten anmelden und - wenn die Fabrik verkauft wird - in einer Kündigungsfrist von vier Wochen ausziehen.

Das Prinzip "Hauswächter" stammt aus den Niederlanden. Bis zum Jahr 2010 konnten dort Häuser, die mehr als ein Jahr lang leer standen, von Besetzern in Beschlag genommen werden. Das Recht auf Unterkunft zählte mehr als Eigentum. Kraaker heißen Besetzer in Holland, Squatter in England. Dabei entstand die Idee, Besetzungen in geregelte Bahnen zu lenken. Gegen eine geringe Gebühr wurde kooperativen Hausbesetzern angeboten, verlassene Häuser zu bewachen und zu bewohnen. Bis ein neuer regulärer Mieter oder Eigentümer gefunden wurde.

"50.000 Hauswächter gibt es inzwischen in Holland", sagt Dirk Rahn, Camelot-Geschäftsleiter in Norddeutschland. Seit 2010 agiert die Firma auch im Bundesgebiet, mit 18 Niederlassungen in sechs europäischen Ländern ist sie eine der größten Zwischennutzungsfirmen. Deutschlandweit werden etwa 30 Gebäude von Camelot verwaltet. In Berlin zum Beispiel eine alte Schule, das ehemalige Collège Voltaire in Reinickendorf, in Hannover war es mal eine 700-Quadratmeter-Luxusvilla.

Im Prinzip könne jedes leer stehende Gebäude benutzt werden, sagt Dirk Rahn. Hauptsache, die Häuser sind wind- und wasserdicht, Toiletten und Duschen müsse es ebenfalls geben. Falls nicht, werden mobile Duschen eingebaut. "Das Angebot richtet sich vor allem an junge, flexible Erwachsene", sagt Rahn. An Familien eher nicht.

Studentin Carina Sigg ist Teil der neuen Anti-Hausbesetzer-Bewegung in der Eidelstedter Fabrik. "Ich habe das Chefbüro abgekriegt", sagt die 20-Jährige. Gut 40 Quadratmeter mit gläserner Trennwand für 175 Euro. Strom, Wasser und Gas inklusive. "Früher haben hier wohl Chef und Chefsekretärin nebeneinander gearbeitet. Bei der Sekretärin steht jetzt mein Bett", sagt Carina. Im Chefraum lebt sie. "Es ist günstig, es ist groß, es ist keine normale Studenten-WG." Mehr Argumente brauchte es nicht. "Und als Student eine normale Wohnung in Hamburg zu finden, ist nahezu unmöglich."

Dabei sind laut Mieterverein 2000 Wohnungen in der Stadt unbezogen, stehen laut leerstandsmelder.de etwa 650 Objekte leer. Potenzial für Zwischennutzungsfirmen wie Camelot wäre vorhanden. Aber in Hamburg sei es noch schwer, Eigentümer für das Konzept zu gewinnen, sagt Dirk Rahn. In Berlin könne man sich leichter über Eigentumsverhältnisse informieren. Die hiesige Finanzbehörde verhandele noch mit Camelot. Denn es handelt sich bei der 1993 gegründeten Firma nicht um einen gemeinnützigen Verein, sondern um ein profitorientiertes Unternehmen. Der Preis für Eigentümer, die ihre leer stehenden Immobilien bei Camelot von Hauswächtern schützen lassen wollen, richte sich nach Objektgröße und beginne bei 195 Euro. Bewohnwachen sei aber günstiger als ein herkömmlicher Wachdienst, sagt Rahn.

Zudem profitieren, gerade in Ballungszentren, Studenten wie Christopher Gardel. "Ich könnte deutlich teurer wohnen", sagt er. Sein Budget würde das hergeben. "Aber ich finde es witzig hier, in der Fabrik." Keine Nachbarn, die sich von lauter Musik gestört fühlen. Umgängliche Mitbewohner, die sich im 1500 Quadratmeter großen Verwaltungsgebäude locker aus dem Weg gehen können. Und natürlich der Preis. Dafür nehme er in Kauf, Bohrlöcher in den Wänden schriftlich beantragen zu müssen und längere Abwesenheitsetappen mit seinem Vertragspartner abzusprechen. Das Hauswächterprinzip gründet auf dauerhafter Präsenz.

Jetzt, an Weihnachten, ist das ein Problem. Alle wollen nach Hause zu ihren Familien. Aber wer bleibt in der Fabrik? "Wir machen gerade einen Plan", sagt Christopher. Als Hauswächter müsse man eben nicht nur beim Komfort oder bei der Infrastruktur Abstriche machen, sondern auch bei persönlicher Bewegungsfreiheit. Das ist der Deal. "Dafür kann nicht jeder von sich behaupten, in einer alten Fabrik zu wohnen", sagt der Student. Gleichzeitig will wohl auch nicht jeder von sich behaupten, freiwillig auf gesetzlichen Mieterschutz zu verzichten. Die beidseitige Kündigungsfrist von vier Wochen bekommen die sechs Hauswächter gerade zu spüren. Bis zum 7. Januar müssen sie schon wieder raus aus ihrem Fabrikschloss. Das Gelände wurde verkauft. Für Christopher Gardel heißt das: weitersuchen. Sechs, sieben WGs hat er schon angeschrieben. Ohne Erfolg.