Rainer Esser, Geschäftsführer der Wochenzeitung „Die Zeit” über das Kunststück, auch jüngere Leser zu fesseln.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für diese Stadt leisten, in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 60: Rainer Esser. Er bekam den roten Faden von Erika Andreß, Präsidentin des Oberlandesgerichts.

Der Weg zum Geschäftsführer des Unternehmens "Die Zeit" hat mehrere Etappen und ist ganz schön verwinkelt. Im dritten Stock des Pressehauses am Speersort 1 liegt der Empfang der "Zeit", von dort geht's weiter per Aufzug in die sechste Etage und dann noch eine Treppe höher in die siebte - und weiter durch lange weiße Gänge, dezent anspruchsvolle Grafik an den Wänden. Glastüren überall. "Als ich hier anfing", sagt Rainer Esser, 55, "war das alles dunkles Holz. Und Holztüren." Heute gibt's den Durchblick auch bei seinem Sekretariat und Büro.

Aus den Fenstern fällt der Blick über Speersort und Steinstraße auf den Turm von St. Jacobi und in die Burchardstraße. Die Wänden sind gepflastert in zehn Reihen übereinander mit den "Zeit"-Titelseiten seit 2003, "seit die Veränderungen sichtbar wurden", jeweils mit verkaufter Auflage. 436 000 waren es mal im Jahr 2003. 517 000 hatte die Wochenzeitung in diesem Jahr schon als Spitzenwert. "In jedem Quartal über 500 000" ist als Ziel in greifbare Nähe gerückt. Ist die Wochenzeitung ein Kriegsgewinnler der Verluste bei den Tageszeitungen? "Wir profitieren von der Entwicklung, dass Zeitungen heute ganz anders an- und aufregen müssen als früher."

Der Zeitschriftenhalter ist mit den acht eigenständigen Magazinen der "Zeit" gut bestückt. So wie in einer Vitrine beim Empfang "Zeit"-Buch- und -CD-Kollektionen, -Schreibgerät und -Notizbücher mit dem Logo präsentiert werden.

Es ist Mittwochmorgen, auf dem Tisch liegt ein Andruckexemplar der neuen Ausgabe, gedruckt bei Axel Springer. Rainer Esser schiebt die Zeitung für den Moment zur Seite. Dreizehneinhalb Jahre ist er jetzt hier. "Jedes Jahr war ein bisschen größer und gewinnbringender als das vorherige." Wenn er über die "Zeit" spricht, ist er stolz, tut aber alles, um angesichts der Erfolge nicht übermütig zu wirken.

Dabei ist anfangs das Zeitungsgeschäft gar nicht sein Ziel gewesen. Eine Banklehre absolviert er in Hannover, "was Solides zum Start". Dann das Jurastudium in München, "das war am weitesten weg von Hannover", und Auslandssemester in den USA an der University of Georgia.

Da schwärmt eine Freundin von der Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule, die sie gerade macht. Er steckt mitten in der Vorbereitung aufs juristische Staatsexamen, "teilweise ne ziemlich fade Sache". Er bewirbt sich auch dort, mit einer Reportage über Jugend und Glauben, "bin hingefahren nach Lenggries, wo sonntags die Kirche noch der Mittelpunkt des Ortes ist. Hab mit vielen gesprochen, dem Pfarrer, den jungen Leuten." Und wird genommen, einer von 15 aus 800 - "eine wunderbare Ausbildung und Ablenkung von der drögen Examensvorbereitung". Da hat er schon mal zwei Bälle in der Luft.

15 Monate Kompaktkursus, Reportagen, Neues entdecken, ungewohnte Blickwinkel finden, gern jenseits von "only bad news are good news" ("Nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten"). Selbst geschrieben hat er schon bei der Schülerzeitung; Zeitungsleser ist er im Elternhaus - Vater bei der "Allianz", Mutter Apothekerin - geworden: "'Hannoversche Allgemeine', Sportteil zuerst. Dann die 'Zeit' - mit der bin ich groß geworden, 'Stern', 'Spiegel'." Zu Hause wird heftig diskutiert, "über Politik, den Wechsel von der Großen Koalition zu sozialliberal, Willy Brandt als Kanzler, die Ostpolitik, Atomkraft, Vietnam, Notstandsgesetze, den Terrorismus der RAF".

Doch nach dem Studium will er nicht zur Zeitung, sondern "zur Uno, Weltbank oder dem internationalen Währungsfonds. Wenn man eine Sache intensiv studiert hat - ich war Spezialist für internationales Steuerrecht, EU-Recht, internationales Prozessrecht - will man das auch in der Praxis erleben." Das tut er, zweieinhalb Jahre. Ist viel im Ausland, ein halbes Jahr in Paris, ein halbes in London bei renommierten Kanzleien. Washington folgt, ein paar Monate bei der Uno in New York.

Und dann gründet ein Bekannter einen Fachverlag für Bertelsmann - für internationales Steuerrecht und EU-Recht. Fünfsprachig. "Das war perfekt für mich." Von dort geht es zu Holtzbrinck, wo er als Geschäftsführer internationale Magazine betreut. Noch vier Jahre Tageszeitung bei der Mainpost in Würzburg, 1999 wird er von Dieter von Holtzbrinck nach Hamburg geholt - als Geschäftsführer der "Zeit". Angekommen. Rainer Esser schaut zurück: "Damals war die 'Zeit' ... sagen wir mal: ausbaufähig - eine sleeping Beauty, die wach geküsst werden wollte." 2001 kamen die Chefredakteure Michael Naumann und Josef Joffe. 2004 dann Giovanni di Lorenzo. Altkanzler Helmut Schmidt war schon 1983 von Gerd Bucerius als Herausgeber geholt worden, heute ist das neben ihm auch Josef Joffe. Titelseiten waren damals noch schwarz-weiß, illustriert mit einer Karikatur. Und weil es in keinem Artikel über die "Zeit" von damals fehlen darf, soll es hier wenigstens zitiert werden: das böse Wort von der "Grabplatte der ersten Seite", mit der die großen Themen erschlagen wurden.

Und heute? "Ist die 'Zeit' eine Erlebniswelt geworden", sagt Esser. Farbiger, "magaziniger". Mit neuen Ressorts, "Geschichte", "Glauben und Zweifel", Kinderseiten und drei Regionalseiten für die Schweiz, Österreich und die neuen Bundesländer. "Wir haben ein investigatives Ressort gegründet, die sind 'on top' gekommen. Seit vier Jahren gibt das Nachrichtenportal 'Zeit online' richtig Gas." Mit fast 50 fest angestellten Redakteuren, fast alle neu dazugekommen. "Dazu die Magazine, unter anderem 'Zeit Wissen', 'Zeit Geschichte', 'Zeit Schulführer' 'Zeit Studienführer', 'Zeit Campus'." Esser ist in seinem Element. "Das Blatt organisiert an die 100 Veranstaltungen pro Jahr. Präsenz in der ganzen Republik - mit Blick auf die jungen Leser mehr als 50 Veranstaltungen an den Hochschulen. Konferenzen, Literaturforen, Debatten, Talks. Hochschulforen, wo wir Studenten mit Unternehmen zusammenbringen." Das lohnt sich, sagt er. "Wir haben heute für 'Zeit Campus' und die 'Zeit' mehr Studenten-Abos als jemals in der Geschichte unserer Zeitung."

Dann die Aktionen für die nachwachsenden Leser. Die zwei Seiten "Kinderzeit" im Blatt, alle zwei Monate "Zeit leo", Kinderbücher, -filme, -musik bis zur "Zeit" in der Schule, wo 240 000 Jugendliche erreicht werden ... Essers Begeisterung ist schwer zu bremsen.

Fragt man ihn nach dem Erfolgsrezept, formuliert er eher bedächtig und staatstragend: Lust an Neuem, stete Neugier, Freude am Wachstum. Einen Masterplan, sagt Esser, habe er dafür nicht gehabt. Eher die Grundhaltung seiner Großmutter, bei der er die ersten sechs Lebensjahre verbracht hat. "Sie hat zweimal alles verloren, nach dem Ersten Weltkrieg bei der Flucht aus Oberschlesien, nach dem Zweiten aus Niederschlesien. Musste zweimal alles neu aufbauen. Da wurde nicht viel theoretisiert, da gab's auch nicht die große Strategie, da musste einfach schnell etwas auf die Beine gestellt werden."

Auch er hat diese Gabe, Dinge zum Laufen zu bringen. Das gemeinsame Ausbrüten neuer Ideen mache ihm Freude, sagt er. "Was wir neu entwickeln, passiert ja immer im Schulterschluss mit der Redaktion, vieles kommt aus der Redaktion, der Verlag nimmt das gern auf. Wir haben flache Hierarchien, offene Türen, viele Diskussionen." Und sehr viele Einzelbüros für Redakteure. "Bei einer Wochenzeitung ist man ja eher Autor. Ein Redakteur bei einer Wochenzeitung im Großraumbüro - das würde wenig bringen, Mehrwert bringt, wenn er sich konzentrieren kann." In anderen Abteilungen - Anzeigen, Vertrieb, 'Zeit online' - gibt es auch größere Einheiten."

Man spürt seine Freude daran, viele Bälle in der Luft zu haben. Was sagt Helmut Schmidt dazu? "Er ist ein großartiger Herausgeber, ich sehe ihn etwa alle sechs Wochen, dann möchte ich meistens etwas von ihm, ihn für eine Idee gewinnen. Er hat immer geholfen, ob ich einen Rat brauche oder ob er uns bei einer Veranstaltung helfen kann als Zugpferd." Wie am 8. November im Michel beim "Zeit"-Wirtschaftsforum, das Schmidt mit einer Diskussion mit Wolfgang Schäuble eröffnet.

Und wo findet in diesem Sog von "größer und besser" das Private Platz? Beim regelmäßigen Tennis mit einem russischen Freund, der im selben Haus in Rotherbaum wohnt, im Club an der Alster, da genügt ihm sogar ein Ball. Seine Frau Cornelia kennt er seit Münchner Studientagen, sie sind seit 16 Jahren verheiratet, die Juristin arbeitet freiberuflich als Mediatorin und Coach. Tochter, 15, und Sohn, 13, sind dabei, die "Zeit" für sich zu entdecken. Sie kommen auch mit zu Diskussionen und Matineen - "freiwillig".

Die Zukunft der Zeitung? Der Mann, der neben der "Zeit" auch für das "Handelsblatt" und den "Tagesspiegel" mitverantwortlich ist, sagt: "Zeitung, und da meine ich nicht nur die 'Zeit', sondern etwa auch das Hamburger Abendblatt oder die ,Süddeutsche Zeitung', das ist für viele Menschen auch Heimat. Bei einer Regionalzeitung ist es mehr die direkte Bindung an die Scholle, bei einer überregionalen Zeitung eher die geistige Heimat."

Dass der Geschäftsführer des Unternehmens "geistige Heimat" den Blick fürs Verkaufen nie verliert, beweist auch der letzte Satz unseres Gesprächs. Womit er sich denn so richtig entspannen kann? "Drei- bis siebenmal pro Woche um die Alster laufen. Und indem ich die 'Zeit' lese." Pause. Er lacht. "Ernsthaft!"

Rainer Esser reicht den roten Faden am kommenden Sonnabend weiter an PR-Frau Alexandra zu Rehlingen, "weil sie mit ungeheurer Energie und Charme große Events auf die Beine stellt und viele nette und interessante Menschen zusammenbringt".