58-Jährige ist als Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamburgs höchste Richterin. Seit fünf Jahren hat sie das Amt.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 59: Erika Andreß. Sie bekam den roten Faden von Alexander Röder.

Gerade schwenkt ihre fußballerische Vorliebe von Rot zu Gelb. Fast ein halbes Jahrhundert lang hat Erika Andreß - obwohl gebürtige Ostfriesin - dem FC Bayern München die Daumen gedrückt. "Nun werfe ich aber immer schon mal einen Blick in Richtung Borussia Dortmund." Sie liebt nicht nur guten Fußball, für sie zählt auch der Erfolg. "Es kommt eben auf das Resultat an", wird die 58 Jahre alte Präsidentin des Hanseatischen Oberlandesgerichts später auch in anderem Zusammenhang sagen.

Was den Fußball betrifft, würden echte Fans, die in guten wie in schlechten Zeiten eisern zu ihrem Verein stehen, Erika Andreß sicherlich als Überläuferin bezichtigen, als eine, der es an Herzblut mangelt. Sie selbst nennt es Pragmatismus. Nicht nur abwarten, bis die Dinge sich vielleicht entwickeln, nein, lieber die Dinge selbst in die Hand nehmen.

Etwa ihren Aufstieg zum Oberhaupt der Hanseatischen Gerichte. Seit fünf Jahren hat sie diese Position, als erste Frau. Sie schmückt sich nicht damit. Frauen seien in der Justiz ohnehin ganz gut vertreten. "Aber es ist ein Zeichen für alle Kolleginnen, dass der Weg bis oben offen ist."

Was für Erika Andreß in ihrem Berufsstand aber noch mehr zählt als Gerechtigkeit bei der Geschlechterverteilung: "In der Richterschaft sollten alle Schichten vertreten sein und nicht nur Akademikerkinder", sagt sie, und: "Wir sprechen ja Recht im Namen des Volkes und brauchen alle Talente!"

Sie selbst ist kein Akademikerkind. Der Vater war Justizangestellter, die Mutter Hausfrau, fünf Geschwister; sie war die Zweitälteste. Die Lehrstelle zur Rechtsanwaltsgehilfin verschaffte ihr der Papa. "Ich wusste mit 15 nicht, was ich werden wollte", sagt Erika Andreß. "Wer weiß das in dem Alter schon?" Auch damals ließ sie sich bereits von Pragmatismus leiten. Denn immerhin konnte sie sofort Geld verdienen. Nicht viel. 60 Mark im Monat. Aber es entlastete die Familie. Ein Abitur wäre nicht infrage gekommen, auch wenn dem Mädchen damals Stipendien dafür angeboten wurden. "Aber ich hing sehr an meiner Familie und hätte nichts gemacht, was meine kleinen Geschwister letztlich belastet", sagt sie heute. Und es gab ja noch den Zweiten Bildungsweg, das hatte sie immer im Hinterkopf.

Mit 22 ging sie ihn. Es war ein steiniger Weg. Von morgens um acht bis um halb vier der Beruf, von 19 bis 22 Uhr Abendgymnasium, nebenher noch lernen und als Schülervertreterin sich um die Belange der Klasse kümmern. Die Anstrengung wurde aber von dem Gefühl überlagert, "endlich etwas für mich zu tun". Und sie strebte nach Höherem. Nicht, wie sie betont, um ihrer selbst willen, sondern um in der Sache etwas bewegen zu können. Schon früh konnte sich Erika Andreß den Posten als Präsidentin des Hanseatischen Oberlandesgerichts vorstellen. "Man muss ja an die Spitze, wenn man etwas gestalten will", sagt sie.

So öffentlich ihr Amt, so zurückgezogen lebt sie im Privaten. Erika Andreß pflegt kaum Kontakte. Komplizierte Beziehungen habe sie in ihrem Beruf schon genug. Sie entspannt sich bei langen Radtouren und liest viel. Sehr viel, wie sie sagt. Dafür verzichtet sie auf einen Fernseher. Den hat sie vor zwölf Jahren in die Abstellkammer verbannt. Menschen sollten selbst denken und eigene Ansichten haben und nicht nur das wiedergeben, was gerade in den Medien gesagt wird. "Unser Leben ist doch schon komplex genug", sagt sie. Dann doch lieber Bücher. Englische Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts vor allem. Auch Tolstois "Krieg und Frieden" liegt ihr am Herzen, weil es die Freizeitlektüre war, die sie sich nach dem Ersten Staatsexamen im Sommer 1986 gegönnt hat. Endlich fand sie Zeit dazu, es war das erste Mal seit ihrer Jugend, dass sie nicht arbeitete. "Das war mein schönster Sommer in Hamburg", schwärmt sie noch heute.

Ansonsten hat sie sich, was sie persönlich betrifft, strenge Zurückhaltung verordnet. Das drückt sie schon durch ihr Erscheinungsbild aus - perfekt sitzendes, aber schlichtes schwarzes Kostüm zu flachen Schuhen, offen getragenes, natürlich gewelltes Haar und ein rundes Brillengestell im ungeschminkten Gesicht. Sie sagt ganz deutlich: "Ich möchte eigentlich gar nicht so viel über meine Person sprechen." Alles, was Rückschlüsse auf ihren Wohnort oder ihre Gewohnheiten zulassen könnte, ist aus Sicherheitsgründen ohnehin tabu. Auch ihr Büro sagt wenig über die Person Erika Andreß aus. In den Einbauschränken stehen viele Gesetzbücher. Auf dem Tisch liegen Akten und ein paar einzelne Stifte. Von Fotos und Zeichnungen an den Wänden schauen ihre Amtsvorgänger herab. Keine Familienbilder, keine Postkarten, keine Souvenirs.

Erika Andreß will bei der Sache bleiben. Sie will über die Auswahl von Richtern sprechen, über die Juristenausbildung und über Gerechtigkeit. "Ich habe ein ganz starkes Gerechtigkeitsgefühl und neige dazu, mich in Dinge einzumischen." Das kommt nicht von ungefähr. Denn schon in ihrer Jugend habe sie als Zweitälteste eine enge, verantwortungsbewusste, fast schon erzieherische Bindung zu ihren Brüdern und Schwestern gehabt.

Manchmal muss ihr Mann sie in ihrem Drang, sich einzumischen, auch bremsen. So wie damals im Urlaub in Lissabon. Da beobachteten sie einen sehr jungen Obdachlosen mit einem Baby, der sich gerade für die Nacht vorbereitete. Sie hätte ihn am liebsten von der Straße geholt. "Mich berührt es sehr, wenn ich Elend sehe", sagt sie. Ändern konnte sie nichts an der Situation des Obdachlosen. Aber die Begebenheit blieb ihr tief in Erinnerung - wie ein Sinnbild für das Ungerechte. "Ich würde mir eine bessere Welt wünschen", sagt sie leise. Und resignieren will sie darüber ganz und gar nicht. "Ich glaube an das Leben, wie es ist, die zerbrechliche Einrichtung der Welt, wie Kleist es gesagt hat."

So hält sie auch als Richterin Empathie für unverzichtbar. "Für mich war es immer schwierig, eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung zu verhängen", sagt sie. Zu sehen, wie jemand in Handschellen aus dem Saal gebracht wird, und zu wissen, wie sehr sie in sein Leben eingegriffen hat, berührt sie. Auch wenn das Urteil juristisch richtig ist. Am meisten bewegt die das Schicksal von Kindern. Noch heute hadert sie mit manchen Entscheidungen aus der Zeit, als sie Familienrichterin war. Denn die Kinder in staatliche Obhut oder eine Pflegefamilie zu geben, ist für sie nicht immer eine zufriedenstellende Lösung. Aber meist gibt es keine andere. "So was muss man in diesem Beruf aushalten können." Eine "belastbare Menschlichkeit" nennt sie diese Eigenschaft. Kein Richter sei nach langen Berufsjahren noch so, wie er zu Beginn ins Amt gegangen ist. Sie habe lernen müssen, ihr Mitgefühl zurückzufahren. Trotzdem wird sie nie die Augen von Kindern vergessen, die vernachlässigt und misshandelt wurden. "Die Kleinen haben ein besonderes Verhalten. Sie sind meist ganz starr."

Sie selbst hat keinen Nachwuchs. "Ich habe es, seit ich Mitte 20 war, dem Schicksal überlassen, und es hat sich so entschieden", sagt sie knapp. Und das sei gut so. Aber, betont sie dann, sie wäre auch mit Kindern ihren beruflichen Weg gegangen.

Ist sie stolz, an der Spitze angekommen zu sein? "Nein, das war eine ganz natürliche Entwicklung." Ihre Berufung 2007 zur Präsidentin hatte sich trotz Empfehlung ihres Vorgängers mehr als zwei Monate hingezogen. Denn der damalige Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU) hatte andere Kandidaten favorisiert. Sie trägt es ihm nicht nach. "Das ist Schnee von gestern", sagt sie. Und sie hat ja, was sie wollte. "Es kommt auf das richtige Resultat an. Und in diesem Fall war es das richtige."

Erika Andreß gibt den roten Faden weiter an Dr. Rainer Esser, Geschäftsführer des "Zeit"-Verlags, "weil ich seine differenzierte Weltsicht schätze und weil er sich so engagiert für den Erhalt journalistischer Grundsätze einsetzt".