Die S 3 ist Hamburgs längste Bahnstrecke. Mehr als 220.000 Menschen pendeln täglich aus Richtung Stade oder Pinneberg ins Zentrum.

Reisereportagen führen Journalisten meist in ferne Länder. In unserer Serie reicht hingegen ein HVV-Ticket - denn die Reiserouten sind die U- und S-Bahn-Linien der Stadt. Auch dort gibt es viel zu sehen und zu entdecken: kleine Dinge, die wir im Alltag meist nicht beachten; kleine Geschichten aus den Waggons, Haltestellen und Bahnhöfen Hamburgs und seiner Umgebung. Heute: die S 3

Drazana Jovanovic hat den Treibstoff der Berufspendler. Sie steht hinter ihrem Tresen mit den Croissants und Vollkornbrötchen in der Auslage und zapft aus den Kaffeekannen. Der schwarze Strahl gurgelt in die Pappbecher. Einsdreißig macht das. Ein Lächeln gibt's umsonst. Morgens um acht stehen die Menschen Schlange vor dem Café am Bahnhof von Pinneberg. Bis rüber zum Döner-Imbiss, erzählt Jovanovic. Morgens, wenn die Arbeiter und Angestellten von Drazana ihren Kaffee und ein letztes Lächeln tanken, bevor sie loshetzen zum Bahnsteig, in die S-Bahn, Linie 3. Richtung Hamburg, Richtung Büro, Richtung Stress.

PI, IZ, NF. Autos, Fahrräder, Mofas. Hamburgs Speckgürtel parkt am Bahnhof von Pinneberg. 221 447 Menschen pendeln jeden Tag in der S 3, von Pinneberg in die Stadt oder von Stade. In keiner S-Bahn sind es mehr. 75 Kilometer Strecke, 32 Stationen. Eine Stunde und 37 Minuten Fahrzeit, solange wie ein Flug von hier nach Paris. Wer von Hamburg nur die Daten der S 3 kennt, muss die Stadt mit Moskau oder Tokio verwechseln.

Wer mit den Taxifahrern gegenüber von Jovanovics Café spricht, muss Pinneberg für ein Nest in Brandenburg halten. "Hier gibt's nicht wirklich was", sagt einer. Keine Disco, kein Kino, kein Badesee mehr. Aber dafür könne man jetzt dort Wasserski fahren. Tzz, tzz.

+++ Die lila Linie S 3 +++

Uff. Ich muss weg! Zu viel Morgenmuffel-Attitüde für die erste Station. Am besten noch einmal rüber zu Drazana, einen Kaffee holen - und eine Dosis Pinneberg-Werbung. Klein sei es hier, aber mit viel Natur drum herum: der Rosengarten, der Stadtwald, der Fahlt heißt. Im Gewusel der Mönckebergstraße fühle sie sich wie in einem Bienenstich. Also ab - in die S 3, ins Gewusel.

Stille. "Ich steige ein und bin dann gern allein." Das singt die Hamburger Band Tocotronic. Sie meint den Bus nach Bahrenfeld. Aber das gilt auch für die S 3 in Thesdorf oder Halstenbek um kurz nach 11 Uhr. Draußen: Wiesen, Güterwaggons auf Abstellgleisen. Drinnen: Vormittagslethargie, ein Mädchen auf der Bank gegenüber tippt dösig auf ihrem Handy, die beste Waffe für ein Ablenkungsmanöver. Eine Reportage im Fernsehen fällt mir ein. Es ging um Pendler in Bangladesch, die sich wie Fliegen an die Türen und auf die Dächer der Züge klammern, weil sich die Menschen in die Abteile quetschen, dass nicht mal Platz für eine Fliege wäre. Hamburg, du niedliches Metropolchen. Jeder hat hier eine Sitzbank für sich. Nächster Halt: Krupunder.

Der Bahnhof, eine Baustelle, ein Gerüst aus Metallstangen funktioniert als Übergang. Vor der Treppe steht eine leere Flasche Wodka. Das Wochenende ist noch nicht lange her. Früher als Schüler, elfte Klasse vielleicht, sind wir im Sommer manchmal ein paar Stationen mit der S 3 von der Elbgaustraße hierher gefahren. Grillwürste hatten wir dabei, Kassettenrekorder, Mix-Tapes und andere Mixe, flüssige. Unser Ziel war der Krupunder See. Den muss es doch noch geben.

Es gibt sogar das kleine Holzhäuschen am Ufer noch, vollgeschmiert mit Graffiti, wie damals. Ein Ort, um Zeit zu verschwenden. Ein Mann liegt auf seinem Handtuch und bräunt seinen runden Bauch in der Sonne. Auch zwei Teenies sind da, turteln auf der Bank. "Ja, am Wochenende hängen hier immer noch Leute ab", sagen sie. Mit Bier, aber ohne Kassettenrekorder. Eher mit iPod. Die beiden würden aber sowieso lieber auf den Kiez fahren. Mit der S 3 natürlich, die Sonnabendnacht zum Party-Express der Vorstadt-Kids wird. Dann johlt und grölt es in den Waggons. Reste von Alcopops kleben auf dem PVC-Boden. Und die Köpfe an den Fensterscheiben, schwer vom Rausch der Nacht. Also los, denke ich, Abschied vom Idyll am See. Auf, Richtung Reeperbahn, Richtung Gewusel!

+++ Einmal Großstadt und zurück in 76 Minuten +++

Stillstand in Stellingen. Zwei Graffiti-Sprayer seien unterwegs im Bereich Diebsteich, knirscht eine Stimme durch die Lautsprecher. Die Weiterfahrt verzögere sich, Polizeieinsatz. Ich sitze am Fenster und sehe die Welt der Sprayer da draußen - an den Wänden aus Beton und den Brückenpfeilern. Die Züge drinnen sind über die Jahre so sauber geworden wie ein Wartezimmer beim Zahnarzt. Nichts besprüht, keine Aufkleber. Früher konnte man Telefonnummern lesen, die irgendein Knilch auf den Sitz gekritzelt hatte. Angebliche Nummern von angeblichen Steffis oder Dirks, die angeblich ja immer nur Sex wollen oder Drogen verkaufen. Mobbing auf S-Bahn-Sitzen ist so 90er wie Kassettenrekorder, denke ich. Dann rollt die S 3 wieder an.

Auf der Reeperbahn kurz nach halb zwei (nachmittags!). Kein Gewusel weit und breit. Man hört nur das Rattern der Rollkoffer, die eine Traube Touristen hinter sich herzieht. Der Dönermann heftet Rechnungen ab, sein Aktenordner liegt gefährlich nahe am Fleischspieß. Beim "Club d'Amour" hängen die Rollläden runter, beim "Eros Center" blitzen ein paar Lichter im Sonnenschein. Der Kiez am Tag ist nur ein Warten auf die Dunkelheit.

Na gut, wenigstens in der "Ritze" muss was los sein! 15 Meter vom S-Bahn-Eingang geht's durch die Tür, hinein durch die zwei Schenkel einer gesichtslosen Lady mit glänzender Haut und roten High Heels. Alles wie immer: die Fanschals vom BVB, das St.-Pauli-Trikot und die Boxhandschuhe an der Decke, Tausende Fotos der Tausenden Kiez-Legenden, die hier Tausende wilde Nächte gefeiert haben müssen. Aber irgendwas fehlt. Menschen, Lärm, der Geruch von Schweiß. Nichts, nur eine sonnenstudiogebräunte Frau nippt hinter dem Tresen an ihrer Cola. Natürlich hat sie ein Tattoo an der Schulter, und natürlich hat sie blonde Strähnchen. Und natürlich will sie nicht gestört werden.

Unten, im Keller der "Ritze", dreschen zwei Männer auf Boxsäcke ein wie einst Sylvester Stallone auf gefrorene Schweinehälften in "Rocky". An der Wand hängt ein Plakat von Eckhard Dagge, es ist von 1976. Der soll mal gesagt haben: "Viele Weltmeister sind Alkoholiker geworden, aber ich bin der erste Alkoholiker, der Weltmeister wurde." Grimmige Typen mit Schweißperlen auf ihren Muskeln. Ich falle hier auf, ich muss weg.

Hauptbahnhof. Es wird voll, ich stehe in der Ecke und sauge nach Frischluft. Hier also habt ihr euch versteckt, ihr 221 447 täglichen Fahrgäste der Linie S 3! Endlich Gewusel! Genervtes Ruckeln, Stöhnen, Quasseln, endlich ein gestresstes "Ich muss mein Fahrrad in die Bahn schieben und dabei auf meinem Handy die SMS fertig tippen". Liebe S 3, du 75 Kilometer langes Berufspendel, hier schlägst du nach allen Seiten aus!

Auf der Veddel lädt die S 3 Ballast ab, Mütter mit Kopftüchern und Kinderwagen, Studenten mit Balkenbrille und Kapuzenpullover, Muskelmänner mit engen T-Shirts und gezupften Augenbrauen. Moment, ist das nicht der Typ aus der "Ritze"? Ich fliehe zum Dönerladen am Bahnhof. Der Mann mit Schürze zupft Krautsalat aus einer Schale. Aber hier, auf der Veddel, ist der Dönerladen auch der Kiosk, und der Kiosk auch die Post. Paketstation und Dönerspieß sind nur Meter entfernt.

Vielleicht ist Hamburg nirgendwo so metropolig wie hier - zwischen Stahl, Containern, Backsteinhäusern, türkischen Cafés, Klubs und Künstlern. Ich gehe die Brückenstraße hoch und stoße auf einen Tisch mit Büchern, Richard Sennetts "flexibler Mensch" liegt neben Sebastian Haffners "Geschichte eines Deutschen".

Ein Schild an der Tür sagt: Der Stadtteilladen hat geschlossen wegen Renovierung. Eine Frau wuselt um Kisten und Tische herum. Es tue ihr leid, es sei gerade schlecht, man möge später vorbeischauen. Im Moment sei Ramadan, da wäre sowieso wenig los auf der Veddel. Alle müde, von den langen Tagen, an denen die vielen Muslime fasten. Die Veddel an Ramadan ist auch nur ein langes Warten auf die Dunkelheit. Die Frau schließt die Tür. Haffner, Sennett und ich bleiben draußen.

D-Zug-Feeling nach Harburg. Die S 3 erreicht hier eine Geschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde. Noch immer sind es fast 50 Minuten bis zur Endstation. Wo ist hier eigentlich das Bordrestaurant? Und der Schlafwagen? Ich werde müde. Ein Bett für jeden Berufspendler, ein Glas Rotwein dazu, das wär's! "Ihre S-Bahn sagt Prost und Gute Nacht!"

Verrückt bleiben, bitte!

Zurückbleiben, bitte!

Nächster Halt: Stade, Endstation. Wer weiter will, muss die Regionalbahn nehmen. Richtung Himmelpforten. Lieber nicht, ich bin noch jung.

Stade hat seinen Stolz auf die Gullydeckel graviert: "Hansestadt" steht dort. Vor 1200 Jahren begann die Besiedlung, im Mittelalter war Stade die größere Wirtschaftsmacht als Hamburg. Koggen und Kaufleute pendelten von Hansestadt zu Hansestadt.

Heute pendelt die S 3. In Stades Altstadt gibt es Modeläden, die nach Größe klingen: New Yorker, Madame und Bonita. Daneben der Optiker "Am Sande", im Fachwerkhaus. Ein Stück weiter lagern schmucke Wandteppiche, und Friseur "Haarem" schneidet schon für sechs Euro. Die S 3, Hamburgs Orientexpress, hat mich bis ins Serail getragen? Wieder Phantasmen, denke ich, und sehe einen Parkscheinautomaten, an dem ein Dutzend Müllsäcke parken.

Auf einmal hallt das Spiel einer Geige durch die Fußgängerzone. Ein älterer Herr mit Hut und Krawatte spielt Melodien, die nach Piroschka und ihrer verlorenen Liebe klingen. Neben seinen Hocker hat er eine Lidl-Tüte gelegt, in seinem offenen Geigenkoffer blinken ein paar Münzen. Ich möchte ihn fragen, woher er kommt, warte, lausche den Liedern, die er ohne Pause spielt. Nur als der erste Regen an diesem Tag auf Stade tröpfelt, unterbricht er. In seiner Heimat sei er Professor für Klassik gewesen. "In Romania, Bukarest."