Ein Reisebericht aus der U-Bahn - mit der U 1 von Norderstedt nach Ohlstedt. 39 Stationen und zwei Bundesländer in 76 Minuten.

Hamburg. Hör doch mal, irgendwo kommt Musik hier aus dem Bahnhof", sagt das kleine, dunkelhaarige Mädchen und zupft seiner Großmutter am Arm. Mit Schwung hüpft es ein paar Treppen in Richtung U-Bahn-Gleis der Station Norderstedt Mitte hinab und grinst die ältere Dame an. "Du wirst sehen: Am Hauptbahnhof spielen sie auch klassische Musik am Bahnhofsvorplatz", sagt ihre Oma und nimmt ihre Enkelin an die Hand. "Fall bloß nicht die Treppe herunter, sonst brauchen wir gar nicht in die Stadt zu fahren", sagt sie. "Und das wäre doch zu schade, wenn unsere kleine Reise ausfällt."

Eine kleine Reise - die Beschreibung passt, wenn man bedenkt, dass es bis zum Ziel der beiden am Stephansplatz 18 Stationen sind. Unsere Reise führt noch 21 Stationen weiter: von einer Endhaltestelle zur anderen. Von Norderstedt bis Ohlstedt, 56 Kilometer in 76 Minuten - einmal Großstadt und zurück.

Ruhig und beschaulich geht es zu am Bahnhof in Norderstedt - zumindest, wenn man sich nicht während der Hauptverkehrszeit dort aufhält. Es ist 11.14 Uhr. Auf dem einen Gleis wartet die AKN, um die Passagiere weiter gen Norden nach Schleswig-Holstein zu befördern. Die U 1 steht auf der gegenüberliegenden Seite. Noch drei Minuten - "Ohlstedt" steht auf der Anzeige. Schnell flitzt noch einmal ein Mann in orangefarbener Warnweste durch die Waggons und lehrt die kleinen Mülleimer aus, die erfahrungsgemäß irgendwann am Nachmittag überquellen oder Kindern als nervtötendes Spielzeug dienen.

Dann piept es dreimal, die Türen schließen, und die Bahn setzt sich in Bewegung. Südlich hinein in das Hamburger Stadtzentrum, dann wieder hinaus in den Nordosten nach Schleswig-Holstein. Würde man die Stecke zwischen Norderstedt und Ohlstedt mit dem Auto in Richtung Osten fahren, wäre man in knappen 20 Minuten da. Die U-Bahn braucht für diesen Weg fast viermal so viel Zeit ...

Felder und Wälder ziehen an den Fenstern vorbei. Wenn man die braunen Kühe sieht, die sich auf Höhe der Haltestelle Richtweg auf der Weide tummeln, scheint die Großstadt unendlich weit weg. Das Fahrrad ist hier das Hauptverkehrsmittel: Dicht an dicht stehen sie an den Haltestellen nebeneinander aufgereiht und warten darauf, dass ihre Besitzer sie nach der Arbeit abholen. Und wenn die Türen aufgehen, ist Vogelgezwitscher zu hören.

An der Haltestelle mit dem seltsamen Namen Kiwittsmoor steigt ein junges Paar ein - er mit großem Koffer, sie mit kleinem Handtäschchen. Das blaue Schild am Gepäck verrät, dass zumindest er eine Reise antreten und höchstwahrscheinlich in Ohlsdorf in die S1 umsteigen wird. "Bis dahin bringe ich dich noch", sagt sie mit dünner Stimme, in ihren Augen stehen bereits Tränen. "Zum Flughafen musst du alleine fahren, sonst fange ich an zu heulen." Dann wird geschwiegen, sich tief in die Augen geschaut. "Ich liebe dich", sagt er zum Abschied. "Bis in drei Monaten ..." Er verschwindet in die Unterführung, die zur Flughafen-S-Bahn führt.

Hier in Ohlsdorf, unserem ersten Zwischenstopp, steht Imdad Bektas. "Dicke Knubberkirschen" hat er auf sein Schild geschrieben, das er mit Kabelbinder an seinem Stand befestigt hat. Eifrig schaufelt er mit den Händen die Früchte in eine braune Papiertüte. "Hier an der Bahn ist ein super Verkaufsplatz. Entweder die Leute nehmen sich die Kirschen mit zur Arbeit oder auf dem Heimweg mit", sagt Bektas. Über vier Wochen hinweg wird er täglich am Bahngleis stehen - und alle fünf Minuten eine U 1 ein- und ausfahren sehen.

Spätestens jetzt beginnt sich die Bahn kontinuierlich zu füllen. Die Zeitungs- und Smartphone-Dichte wird höher. Niemand scheint darauf zu achten, dass die City Nord am Fenster vorbeizieht, Sportler auf einem Fußballplatz nahe der Haltestelle Alsterdorf trainieren. Auch das Fahrgastfernsehen interessiert kaum jemanden. Und den blinden Passagier, ein hellgrauer Schmetterling, der in Fuhlsbüttel Nord eingeflogen und an der Hudtwalckerstraße wieder ausgeflogen ist, hat niemand wahrgenommen. Aufmerksam werden viele der Fahrgäste erst wieder bei der Durchsage kurz vor der Kellinghusenstraße. Schienenersatzverkehr. Ein Reizwort für gestresste Berufstätige. "Die U-Bahn-Linie U 3 ist zwischen den Haltestellen Kellinghusenstraße und Barmbek gesperrt und wird durch Busse ersetzt", flötet die Stimme, die genervtes Schnauben, Stöhnen und Meckern nach sich zieht.

Von der Haltestelle Kellinghusenstraße geht es hinab in die dunklen Tiefen des Hamburger U-Bahn-Netzes. Doch auch dort gibt es Farbtupfer, so am Klosterstern. Blumenhändler Malik Sameer lebt von der Laufkundschaft, die auf dem Nachhauseweg noch mal eben schnell ein paar Rosen oder Tulpen mitnimmt. "Auch ein Großteil der Blumen, die als Dekoration in den vielen Boutiquen am Eppendorfer Baum stehen, stammt von mir", sagt er nicht ohne Stolz.

Die Jungs mit Tennisschlägern, die an der nächsten Haltestelle einsteigen, machen den Blick auf den Stationsnamen überflüssig: Hallerstraße. Eindeutig. Vom Training, direkt am Tennisstadion Rothenbaum, geht's - so der Plan der Schüler - "noch einmal kurz in die City, was im Apple Store anschauen", wie der Blondschopf mit hochgeschlagenem Poloshirt-Kragen sagt. Also heißt es aussteigen am Jungfernstieg, einer der wenigen Stationen, an denen die Haltestellenansage auch auf Englisch vorgetragen wird. Dort geht's nämlich zur "Town-Hall" und zu den "Alsterboat-Trips" - auch an die Touristen hat man gedacht.

Zwei norwegische Touristinnen haben sich jedoch für die Haltestelle Meßberg entschieden, um sich die Speicherstadt anzusehen. "Es ist sehr sauber, selbst in den U-Bahnen", loben die Frauen aus Lakselv, einer Kleinstadt im Norden des Landes. Leicht war es jedoch nicht für sie, sich am Hauptbahnhof zurechtzufinden. "Erst dachten wir, es gebe drei: Nord, Süd, und eben Hauptbahnhof. Ziemlich verwirrend", sagen sie lachend. Die U 1 passiert den südlichen Abschnitt des großen Bahnhofs und fährt dann hinauf in Richtung Nordosten, unterhalb der Wandsbeker Chaussee entlang.

Auch hier ist die Smartphone-Dichte wieder enorm. Keiner der Passagiere beachtet die Kontraste der Wandfliesen an den Bahnhöfen. In Wartenau glänzen moderne, rote Wände, die im Jahr 2008 bei einer Renovierung des Bahnhofs erneuert worden sind. Eine Haltestelle weiter, Ritterstraße, fällt der Ritterkopf auf, der sich in grauen Fliesen von der Wand abzeichnet. Zudem ist der Name der Haltestelle in Frakturschrift auf den Wänden zu lesen. Aufgeschreckt werden die Fahrgäste erst, als an der Wandsbeker Chaussee ein junger Mann in neongelber Hose einsteigt. Lautstarke Technomusik dröhnt aus den Ohrstöpseln seines iPods. Die Erleichterung ist der älteren Dame ins Gesicht geschrieben, als der Musikliebhaber an der nächsten Haltestelle, Wandsbek Markt, gleich wieder aussteigt - wie ein erheblicher Teil der Passagiere. Nur vereinzelt bleiben die Mitfahrer an diesem Tag auf den Sitzbänken mit den rosa-grau melierten Bezügen sitzen. Für den Feierabendverkehr ist es noch zu früh. Ab Wandsbek-Gartenstadt durchflutet wieder das Tageslicht die U-Bahn, es geht aus dem Tunnel hinaus ins Freie. An der Haltestelle Trabrennbahn hält man vergeblich Ausschau nach einer solchen - am 25. Februar 1976 fand das letzte Rennen statt. Immer wieder huschen Einfamilienhäuser hinter den Kleingartensiedlungen an der fahrenden U-Bahn vorbei, im Hintergrund zum Teil hohe Betonbauten. Die Bahn passiert Farmsen, Berne, Meiendorfer Weg. Es wird ländlich. Große Messingplatten geben an vielen Haltestellen den Namen des Bahnhofs an, deren Gebäude aus rotem Backstein gebaut sind. Die Architektur zeugt noch davon, dass sie zu Abschnitten der ehemaligen Walddörfer-Bahn gehören, die bereits in den 1920er-Jahren die Stadt Hamburg mit den damals zu Hamburg gehörenden Exklaven Farmsen, Volksdorf und Großhansdorf verbunden hat.

Es wird immer grüner um die Gleise herum, beim Öffnen der Türen hört man wieder Vogelgezwitscher, die Zahl der Fahrräder an den Haltestellen nimmt merklich zu. In Volksdorf dann die Frage: Ohlstedt oder Großhansdorf? Die U-Bahn-Linie teilt sich hier auf in zwei Richtungen. Der Zufall entscheidet für Ohlstedt, wo die "transhamburgische U-Bahn" endet. "Bitte alle aussteigen", sagt die nette Frauenstimme. Nur vier Passagiere sitzen noch im Waggon. Die Türen gehen auf, und es wirkt fast klischeehaft, dass kein Auto zu hören ist - nur die Stimmen einer Kindergartengruppe durchschneiden die Stille. Pause an einem kleinen Eisladen, direkt neben dem Bahnhof. Schokolade schmeckt besonders gut, sagt der kleine Finn. Schräg gegenüber steht ein altes Bauernhaus. Ein paar Hundert Meter weiter beginnt der Wald. Hamburg? Das ist sehr weit weg.

Am nächsten Sonnabend folgt der nächste Reisebericht: Die U 2 von Niendorf Nord nach Mümmelmannsberg.