Im Gängeviertel kämpfen Künstler für den Erhalt historischer Bausubstanz. Was als Sanierung verkauft wird, wird oft zur seelenlosen Architektur.

Im Jahr 1883 rückten die ersten Arbeitskolonnen an, um die Fachwerkhäuser auf dem Großen Grasbrook abzureißen. Mit Dampfbaggern und Spitzhacken brachten Heerscharen von Arbeitern in fünf Jahren die Mauern eines ganzen Wohnquartiers zum Einsturz, auf Schuten wurde der Schutt mehrerer Jahrhunderte abtransportiert. Zuvor hatten hier 24 000 Menschen ihr Zuhause verloren, waren zwangsweise umgesiedelt worden, weil die Stadt Platz brauchte. Platz für ein neues, hochmodernes Hafengebiet, die Speicherstadt. Auf dem Großen Grasbrook hatten die Menschen in einem engen Gängeviertel gewohnt, nun wichen viele von ihnen in ein anderes, in der Alt- oder in der Neustadt, aus. Ende des 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gingen auch diese Gängeviertel verloren, den Rest besorgten die Bomben des Zweiten Weltkriegs und die Wiederaufbaustrategen. Geblieben sind nur jene zwölf Gebäude zwischen Valentinskamp und Caffamacherreihe, für deren Erhaltung und kulturelle Nutzung sich die Künstlerinitiative "Komm in die Gänge" starkmacht.

Jetzt geschieht auch hier, was schon Alfred Lichtwark, der Gründungsdirektor der Hamburger Kunsthalle, beobachtet hatte, als er von Hamburg als der "Freien und Abriss-Stadt" gesprochen haben soll. Ein unwiederbringliches Stück Hamburger Historie geht verloren. Die Fachwerkhäuser dieses Wohnquartiers stehen so eng beieinander, dass sie schmale Gänge bilden. Auf Gemälden des 19. Jahrhunderts muteten diese Stadtviertel romantisch an, die Realität war anders. Die Menschen lebten hier unter katastrophalen Bedingungen. "Die scheußlichste Pestluft aus den Gossen erfüllt zuzeiten die engen Straßen, in welchen die Bewohner einander in die Fenster sehen", heißt es in einem Bericht, den Johann Hinrich Wichern 1847 verfasst hat. Viele Bewohner konnten sich das Trinkwasser, das von Trägern durch die engen Gassen geschleppt wurde, nicht leisten und bedienten sich daher aus den Fleeten, in die aber auch alle Abfälle und Abwässer gekippt wurden. Kein Wunder, dass die Cholera, die Hamburg 1892 heimsuchte, in den Gängevierteln der Alt- und der Neustadt die meisten Opfer forderte. Als der renommierte Arzt Robert Koch anreiste, um Strategien gegen die Seuche zu finden, war er fassungslos, als man ihn durch eines der Viertel führte. An Wilhelm II. schrieb er: "Ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie hier." Etwa 1500 Menschen lebten auf nur einem Hektar, jedem Bewohner standen statistisch nicht mehr als 6,2 Quadratmeter zur Verfügung.

Diese Umstände führten zwangsläufig zur Verwahrlosung. Kriminalität, Alkoholmissbrauch und Gewalt bestimmten vor allem seit dem späten 19. Jahrhundert das Leben in Wohnvierteln, die sich mehr und mehr zu rechtsfreien Räumen entwickelten. Andererseits entwickelte sich hier auch ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und ein proletarisches Klassenbewusstsein. Dass sich die Arbeiter, die hier leben mussten, politisch radikalisierten, und vielfach der KPD anschlossen, lag auf der Hand. Aber statt die sozialen Ursachen für diese Missstände zu beseitigen, suchten die Behörden immer wieder nur einen Ausweg: den flächendeckenden Abriss.

Tatsächlich hat die Hansestadt seit etwa anderthalb Jahrhunderten in beispiellosem Maß historische Bauten preisgegeben und nur selten etwas dafür gewonnen, was das Opfer rechtfertigen würde.

Nachdem die Stadt ihren gotischen Dom 1806 dem Erdboden gleichgemacht hatte, dauerte es fast 40 Jahre, bis an derselben Stelle das Johanneum entstand. Das eindrucksvolle klassizistische Gebäude von Ludwig Wimmel, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, war wenigstens ein einigermaßen angemessener Ersatz für den mittelalterlichen Vorgängerbau.

In den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurden nicht nur ärmliche Fachwerkhäuser abgerissen. Auch anspruchsvolle Bürgerhäuser, zum Beispiel am Wandrahm, die zu den schönsten Zeugnissen Hamburger Barockarchitektur gehörten, fielen der Spitzhacke zum Opfer. Doch während der inzwischen selbst längst unter Denkmalschutz stehende backsteinerne Lagerhauskomplex der Speicherstadt ein solches Opfer rechtfertigen mochte, war das oft nicht der Fall. So führte schnöde Profitgier 1873 zum Abriss des prächtigen Renaissance-Bürgerhauses "Kaiserhof" am Neß.

Nachdem schon die Bomben des Zweiten Weltkriegs ungezählte wertvolle Bauwerke zerstört hatten, gingen die Behörden geradezu bedenkenlos mit dem architektonischen Erbe Hamburgs um. So genehmigten sie 1967 den Abriss des 81 Jahre zuvor von Martin Haller errichteten Dovenhofs, des prächtigsten aller Hamburger Kontorhäuser, damit auf derselben Fläche das "Spiegel"-Hochhaus entstehen konnte. Die alte Münchmeyer-Bank am Ballindamm verschwand ebenso aus dem Stadtbild wie das Winterhuder Fährhaus (1979 abgerissen).

Wie wenig spätere Neubauten den Abriss ihrer historischen Vorgänger rechtfertigten, zeigt besonders eindrucksvoll der Altonaer Bahnhof. Das 1898 in neoromanischen Formen errichtete Bauwerk überspannte mit seiner mehrschiffigen Glashalle elf Gleise. Mit seiner Eleganz und Großzügigkeit entsprach es noch dem Typ der großen Kathedralen des Verkehrs, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielen europäischen und amerikanischen Metropolen errichtet wurden und heute als Sehenswürdigkeiten geschätzt werden. Der zweistöckige Nachfolgebau von 1979 ist dagegen eine trostlose Betonorgie, ein schmerzhaft provinzielles Architekturexempel, das noch dazu schlampig ausgeführt wurde. Und noch im Jahr 2002 opferte man für den Bau der "Europa-Passage" in der Innenstadt die historischen Kontorhäuser "Haus Vaterland" und "Europahaus". Außerdem ging dabei die hinter den Gebäuden verlaufende Sichtachse zwischen der Kunsthalle und dem Rathaus für immer verloren.

Solche Beispiele ließen sich ohne Ende fortsetzen. Woran liegt es, dass Hamburg so bedenkenlos Bauwerke preisgibt, die unwiederbringlich sind? Fehlt es den Hanseaten trotz der langen Geschichte ihrer Stadt an historischem Bewusstsein?

Beim Großen Brand von 1842 ging die mittelalterliche Stadt zum überwiegenden Teil verloren. Damals werden es die Senatoren nicht offen gesagt haben, aber manch einer wird froh gewesen sein, auf dem Schutt der verwinkelten mittelalterlichen Strukturen eine moderne Stadt erbauen zu können. Verlust als Gewinn - das war die prägende Erfahrung, die Mitte des 19. Jahrhunderts die "Nachbrandarchitektur" ermöglicht hat - mit großartigen Ensembles wie den geradezu venezianisch anmutenden Alsterarkaden und der Alten Post.

Doch später ging diese Rechnung nicht mehr auf. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg fühlten sich manche Stadtplaner durch die Zerstörungen von altem Ballast befreit und fühlten sich in der Lage, endlich gravierend in die urbane Struktur einzugreifen. Zum Beispiel schlugen sie die Ost-West-Straße als Schneise durch die Stadt, die seither die Innenstadt vom Hafen abschnürt. Doch anders als nach dem Großen Brand, als Hamburg als Kunstwerk entstand, wie Fritz Schumacher formulierte, machen viele Entscheidungen der 50er- bis 80er-Jahre heute fassungslos. Die meisten Schätze wurden ohne Not preisgegeben, nur selten war ein Abriss gerechtfertigt.

Investoren wollen Geld verdienen. Bei der Jagd nach dem maximalen Profit spielt das Erbe der Geschichte keine Rolle. Gerade deshalb trägt die Stadt eine besondere Verantwortung, die wenigen historischen Gebäude zu erhalten, die die Widrigkeiten der Zeit überstanden haben - und seien es die Reste eines ehemaligen Elendsquartiers wie am Valentinskamp.