Der emeritierte Politikprofessor Wolfgang Gessenharter wird gerufen, wenn es bei Bauprojekten zwischen den Beteiligten zu vermitteln gilt.

Hamburg. Überall, wo in Hamburg neue Wohnungen geplant werden, wollen Anwohner beteiligt werden, ihre Bedenken und Anregungen berücksichtigt wissen. Wolfgang Gessenharter, emeritierter Politikprofessor der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, wird in der Hansestadt und anderen Städten immer wieder gerufen, wenn Bürgerproteste gegen Planungen aufflammen, und gilt als eine Art Beteiligungs-Papst. So begleitete Gessenharter die Erweiterung der Messe in Hamburg oder aktuell die Planung der Neuen Mitte Altona .

Hamburger Abendblatt: Wir erleben in Hamburg derzeit viele Formen des Protests: gegen Wohnungsbau, für Wohnungsbau und günstige Mieten, gegen eine Bebauung des Autobahndeckels, gegen Veränderung in der Nachbarschaft. Gibt es da eigentlich eine gemeinsame Klammer?

Professor Wolfgang Gessenharter: Eines ist klar: In dem Moment, wo Protest auftaucht, ist etwas nicht da, was zu einem funktionierenden Staatswesen gehört: nämlich Vertrauen. Das Vertrauen der Menschen zu den Regierungen, zu den Mächtigen ist geschwunden. Und die Menschen sehen auch keine Möglichkeit mehr, dass in den üblichen parlamentarischen Verfahren ein Interessenausgleich geschieht.

+++ Mehr als 20.000 neue Wohnungen geplant +++

+++Neue Wohnungen: Bauprojekte mit mehr als 50 Einheiten+++

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Also geht es immer um die eigenen Interessen vor der eigenen Haustür?
Gessenharter : Nicht nur, es gibt auch Proteste, die aus bestimmten Werthaltungen heraus kommen. Die Menschen glauben dann, dass ihre Werte anderen Werten wirklich fundamental gegenüberstehen.

Man protestiert, weil man annimmt, seine eigenen Vorstellungen seien das Beste, was allen widerfahren könne?
Gessenharter : Dass sie das Beste für die Gemeinschaft sind, oder etwas vorsichtiger ausgedrückt, dass die Werte, die die anderen vertreten, keinesfalls nützlich für die Gemeinschaft sind.

Wenn es also um Rendite und Profit von Investoren geht?
Gessenharter : Ja, das wäre ein Beispiel. Diese Art und Weise zu sagen, dass die Wirtschaft heute alles überrollt, dass das ökonomische Denken alles in den Hintergrund stellt. Ja, das ist bereits eine solche Kritik, eine Kritik, die nicht so ganz falsch ist, wie wir wissen. Und dann gibt es noch eine dritte Form: Protest wird gemacht, weil man sich so abgekoppelt sieht. So wie wir es in den Vororten von Paris erleben.

Würden Sie sagen, dass wir einen solchen, vielleicht verzweifelten, Protest auch in Hamburg erleben?
Gessenharter : Längst nicht in dieser Form, aber es gibt so etwas. Etwa, wenn Leute kurz Veranstaltungen stören, um auf sich aufmerksam zu machen

Was ist nicht Ordnung, wenn sich diese Protestform zu häufen scheint?
Gessenharter : Meine Vorstellung eines guten Gemeinwesens basiert auf einer Grundlage, die ich Sozialkapital nennen würde: Und das besteht aus generalisiertem Vertrauen, aus einigermaßen geteilten Werten und es besteht aus Netzwerken.

Eigentlich müsste es in diesem Sinne eine Übereinstimmung geben, dass es Wohnungsmangel gibt in Hamburg und dass deshalb gebaut werden muss?
Gessenharter : Ja schon. Aber diese Formen des Protests hängen mit diesem Sozialkapital zusammen, das im Schwinden begriffen ist. Insofern sind diese Proteste auch ganz wichtig, weil sie signalisieren, dass das Sozialkapital nicht mehr in Ordnung ist. Proteste sind auch dann eher wahrscheinlich, wenn Menschen den Eindruck haben, dass Entscheidungen gefallen sind, Fakten festgeklopft sind, bei denen sie in keiner Weise mitwirken konnten.

Das würde bedeuten, man muss die Leute viel früher beteiligen als oft üblich?
Gessenharter : Ja, eindeutig ja. Ich bin fast immer gerufen worden zu Vermittlungen, als bereits der Schimpf- und Schmähklatsch die Runde machte. Nämlich, dass man über den Gegner nur Schlechtes erzählt, über sich nur Gutes: Und dieses von beiden Seiten: Alles nur Randalierer und Chaoten, sagt dann die eine Seite. Renditehaie, von Profitgier getrieben, heißt es bei den anderen.

Ist dann eine Vermittlung noch möglich?
Gessenharter : Doch, schon. Bei der Messe-Erweiterung haben wir das zeigen können. Wir haben damals mit einer genauen Konfliktanalyse angefangen. Man muss sehen, dass Demokratien kein Hort sind, in dem Konflikte nicht auftreten dürfen. Konflikte gibt es einfach, wenn Menschen frei sein, verschiedene Werte haben dürfen. Und wenn die Ressourcen begrenzt sind. Wenn diese drei Dinge zusammenkommen, dann sind Konflikte schlicht programmiert Jetzt kommt es darauf an: wie man mit diesen Konflikten umgeht - nicht, wie man sie zu umgehen sucht.

Man muss Konflikte zulassen?
Gessenharter : Ja. Wenn man sich die großen Entscheidungen ansieht in Hamburg, die Neue Mitte Altona, die Autobahnüberdeckelung - dann sind sie erwartbar. Eine kluge Politik versucht sofort Konflikte zu ermitteln.

Hat man in Stuttgart wohl anders gesehen?
Gessenharter : Stuttgart 21 ist das beste Beispiel. Man nahm nicht wahr, dass hier Konflikte kommen könnten, man versuchte, die Leute mit Hochglanzbroschüren zu überzeugen. Dabei wissen wir: Hochglanz macht misstrauisch, hinter dem Glanz vermuten die Menschen, dass sie verschaukelt werden sollen.

Wie sollte denn eine frühe Beteiligung aussehen?
Gessenharter : Zunächst muss das auf hohem professionellen Niveau geschehen. Doch heute muss ich leider feststellen, dass als Moderatoren oft Leute aus Marketingfirmen genommen werden. Nichts gegen diese Leute, doch ich denke mir, im Endeffekt wollen die doch nur etwas verkaufen.

Es gibt immer wieder die Kritik, eine Bürgerbeteilung sei kaum eine Beteiligung an einer echten Entscheidung.
Gessenharter : Wenn eine Moderation auf eine Entscheidung zuläuft, die so kritisch ist, dass ein hoher Prozentsatz nicht zustimmt, kann das nicht Ziel einer Konfliktschlichtung sein. Es bleiben zu viele Verletzte zurück. Ziel muss so etwas wie ein Kontrakt sein, bei der jede Seite der anderen sozusagen etwas gönnt. Dann entsteht schon sehr viel Gemeinsamkeit, die ein Projekt im guten Sinne voranbringen kann.

Man legt den Kern frei?
Gessenharter : So ist es. Das ist wie in der Medizin auch. In dem Moment, in dem Sie einen Krankheitsherd identifiziert haben, kann man ihn behandeln.