Die Nazis deportierten und ermordeten Tausende Hamburger Juden. Unter ihnen war auch der Oberrabbiner Joseph Carlebach.

Vier Gestapo-Männer, nackte Betonmauern, eine grelle Glühbirne, ein Schulmädchen in der Mitte und die penetrant wiederholte Frage: "Wo hat Ihr Vater seine Devisen?" Ihre immer gleiche Antwort: "Er hat keine Devisen." An diesem Vormittag soll Miriam Carlebach im Zug von Hamburg nach Triest sitzen. Von dort will die 16-jährige Tochter des Hamburger Oberrabbiners Joseph Carlebach per Schiff nach Palästina auswandern. Den Pass mit dem nachträglich eingestempelten roten "J" für "Jude" hat sie längst; ein Touristenvisum auch. Jetzt sitzt sie wie auf glühenden Kohlen; das plötzliche Gestapo-Verhör stellt alles infrage.

Nach vier Stunden geben die Peiniger auf, die Mutter bringt sie zum Bahnhof. Als Miriam sie trösten will, weil sie ja noch acht andere Kinder habe, sagt Charlotte Carlebach: "Für mich ist jedes Kind mein einziges." Für den Abschied von der Familie ist keine Zeit mehr. Miriam wird die Eltern und drei ihrer acht Geschwister nicht wiedersehen.

Das alles geschieht am 8. November 1938; am Tag darauf brennen die Synagogen, auch in Hamburg.

73 Jahre später sucht Miriam Gillis-Carlebach nach Tondokumenten ihres Vaters. Sie ist 89 Jahre alt und lebt bei Tel Aviv. Ihr Vater war als großer Redner und Prediger bekannt. Hat vielleicht die Gestapo eines der Verhöre aufgezeichnet? Unwahrscheinlich. Eine Abendblatt-Recherche beim Staatsarchiv klärt: Die Hamburger Gestapo-Unterlagen sind verbrannt. Aber sie fördert zwei schmale Akten zu Joseph Carlebach zutage: Dokumente eines Strafverfahrens und einer Finanzermittlung.

Sie erzählen nicht von großen Verbrechen, sondern von den vielen kleinen bürokratischen und juristischen Schikanen, die dahin führten. Sie erzählen von einer Zeit, in der Hamburger Bürger ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt, deportiert und ermordet wurden.

Miriam Gillis-Carlebach hat diese Akten durchgesehen; und bei ihrem jüngsten Besuch in Hamburg haben wir mit ihr darüber gesprochen. Die Erinnerungen an den Vater und an die Zeit der Verfolgung, ganz persönliche Gedanken, Gefühle und die historischen Fakten sind plötzlich eng miteinander verwoben und verdichten sich zu einer bitteren Chronik.

In Hamburg hatte Hitlers nationalsozialistische Bewegung schon Jahre vor 1933 Fuß gefasst. Hier wartete man nicht bis zur Kapitulation der Demokratie oder den Nürnberger Rassegesetzen von 1935. In Hamburg leben 1933 16.885 Juden. 1936 wird Joseph Carlebach, 53 Jahre alt, ihr Oberrabbiner. Er predigt in der großen Bornplatz-Synagoge und wohnt mit seiner Familie an der Hallerstraße 76, Parterre links.

Carlebach, 1883 in Lübeck als Sohn einer bekannten Rabbiner-Familie geboren, ist Naturwissenschaftler, Pädagoge, wird später selbst Rabbiner. Fotos zeigen ihn als Respektsperson mit natürlicher Autorität, würdig, mit Bart und Gehrock. Er predigt nicht nur, sondern hält auch kunsthistorische Vorträge im Altonaer Museum. An der Hallerstraße sitzen immer arme Gäste mit am großen Tisch. Miriam Gillis-Carlebach erinnert sich an die jährlichen Besuche auf dem Hamburger Dom, der Rabbiner mit allen neun Kindern. Und erzählt eine Geschichte: Ein Apfel wird für die Kinder in zehn Stücke geteilt. Das zehnte Stück, sagt der Vater, bekommt, wer am besten lügen kann. Die Kinder geben sich Mühe, sagen, sie lieben die Eltern nicht, sie glauben nicht an Gott. Ein Bruder sagt: Ich verzichte. Er bekommt das Stück. "Das Lachen meines Vaters war so befreiend."

Am 11. März 1938 hat Miriam bei Freunden im Radio vom Rücktritt des österreichischen Kanzlers Schuschnigg gehört. Sie erzählt es dem Vater. Der ruft bestürzt: "Gott, erbarme dich über deine armen Juden."

Antijüdische Propaganda und Ressentiments nehmen zu. Am 12. März 1938 hat Hitlerdeutschland sich Österreich einverleibt; sofort brechen dort brutalste Gewaltorgien gegen Juden los. Adolf Eichmann ist zuständig dafür, dass möglichst viele Juden Österreich verlassen.

In Deutschland müssen Juden im April 1938 alles Vermögen deklarieren, das 5000 Reichsmark übersteigt. Im August werden die Zwangsvornamen Israel und Sara für Juden verbindlich.

1938 emigriert Miriam, weil ihr das eingeschränkte Leben in Hamburg immer unerträglicher wird. Im Dezember schicken die Eltern zwei weitere Kinder, Julius und Judith, fort - mit einem Kindertransport nach England. 1939 folgen ihnen Eva Sulamith und Esther - eine Trennung für immer, aber diese Kinder sind in Sicherheit. Charlotte Carlebach, die Mutter, begleitet 1939 einen Kindertransport nach England und kehrt nach Hamburg zu ihrem Mann und ihren vier jüngeren Kindern zurück.

Als ihr Auswanderungsbegehren behördlich bekannt wird, schlägt die Finanzverwaltung Alarm. Am 13. Oktober 1938 schreibt das Finanzamt Hamburg Rechtes Alsterufer, Beim Schlump 83, mit dem Vermerk "Sofort!" an die Behörde "Oberfinanzpräsident" wegen einer "Sicherungsmaßnahme". Man habe gehört, Joseph Carlebach wolle auswandern. Verdachtsgrund: "Antrag auf Ausstellung einer steuerlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung", die man für eine Ausreise braucht. Blitzartig wird das Räderwerk der Finanzverwaltung in Gang gesetzt.

Über seine Finanzen darf er nur noch mit behördlicher Genehmigung verfügen. Finanzämter, Versicherungen, Reichsbank, Dresdner Bank spielen mit bei dieser Drangsalierung. Carlebach legt Lebensversicherungen und Zahlungsverpflichtungen offen, um an sein eigenes Geld zu kommen - allein die Auswanderung der Tochter Miriam werde ihn 1350 Reichsmark kosten, außerdem könne er Arzt- und Schneiderrechnungen nicht bezahlen. Man gibt Geld frei, hat aber ein Auge darauf. Am 8. November 1938 gibt Carlebach zu Protokoll, er habe nicht vor auszuwandern, er habe eine feste Stellung, die Gemeinde zähle noch 10 000 Köpfe.

Ausweislich der Akte im Staatsarchiv sind an diesen Vorgängen etwa 30 Personen beteiligt: Finanzbeamte, Angestellte, Sekretärinnen, Reichsbankangestellte, Versicherungsleute, Zollfahnder, Polizisten, Formulardrucker.

Die Vermögensaufstellungen der Juden werden direkt nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 Grundlage ihrer Ausplünderung: Etwa 25 Prozent ihres Vermögens müssen sie in fünf Raten über die Finanzämter abführen, als "Sühneleistung". Das Deutsche Reich kassiert 1,12 Milliarden Reichsmark.

Ab Ende 1938 heißt die Hallerstraße Ostmarkstraße (Ostmark nennen die Nazis das "angeschlossene" Österreich).

Anfang 1940 übernimmt Eichmann die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Berlin. Aber bald läuft die Überlegung in eine andere Richtung als die der Vertreibung.

Der Oberrabbiner ist in diesen Zeiten der Haltepunkt der Gemeinde. Er rettet Juden mit diplomatisch formulierten Bescheinigungen. Er unterstützt bedürftige Gemeindemitglieder - auch ganz praktisch. Ein Nagel im Magen eines Huhns hätte es unkoscher gemacht. Er lässt seine Frau ein neues kaufen und gibt es der armen Frau, die ihm das andere zur Begutachtung gebracht hatte: "Nehmen Sie, es ist koscher." Einen alten Juden, der im Altenheim nicht zurechtkam, hat er in der eigenen Wohnung aufgenommen. Carlebach kümmert sich um Kinder der 1938 urplötzlich ausgewiesenen polnischen Juden. Er ist Helfer und moralische Instanz, bekannt für seine menschliche Auslegung von Regeln und Gesetzen.

Am 27. Februar 1941 lässt der Präsident der Reichspostdirektion einen Brief an die Staatsanwaltschaft Hamburg schicken: Er denunziert Juden, die ihre Zwangsvornamen Israel oder Sara nicht haben ins amtliche Fernsprechbuch für 1940 eintragen lassen, auch Joseph Carlebach. "Ich bitte gegen die in den anliegenden Nachweisungen aufgeführten jüdischen Personen ... das strafrechtliche Verfahren einzuleiten."

An die 25 Menschen sind, so sagt es die zweite Carlebach-Akte im Staatsarchiv, von da an damit beschäftigt, gegen ihn zu ermitteln, zu vernehmen, zu schreiben, zu urteilen, zu kassieren.

Ein Polizeihauptwachtmeister vernimmt Carlebach dazu am 8. April 1941. Registriert wird, was er verdient - 450 Reichsmark monatlich, wie viele Kinder er hat - neun, dass er 1914 bis 1918 gedient hat und als Hauptmann aus der Armee ausschied. Unter Vorstrafen steht "angeblich nicht"; Carlebach sagt aus: "Die Absicht der Verheimlichung meiner Zugehörigkeit zum Judentum konnte ich schon aus dem Grunde nicht haben, da ich als Oberrabbiner im Fernsprechverzeichnis eingetragen bin."

Eine Geldstrafe wird festgesetzt. Mit den Verfahrenskosten zahlt Carlebach am 31. Mai 1941 52,50 Reichsmark bei der Gerichtskasse ein. Geld, das ihm bitter fehlt. Seit Oktober 1940 bekommt er kein Gehalt mehr, die Familie lebt von Erspartem und Almosen.

Am 31. Juli 1941 beauftragt Hermann Göring Reinhard Heydrich mit dem "Gesamtentwurf" für die "Endlösung" der Judenfrage. Wenige Wochen später bittet der Hamburger Gauleiter und Reichsstatthalter Karl Kaufmann bei Adolf Hitler darum, Hamburgs Juden "evakuieren" zu lassen. Mitte Oktober 1941 leben hier noch 7547 Juden.

Carlebach betont immer wieder, er wolle seine Gemeinde nicht im Stich lassen und nicht ins Ausland fliehen.

Im Herbst 1941 schnappt die Falle zu: Für Juden gilt jetzt ein Auswanderungsverbot. Am 19. September wird es für sie Pflicht, den handtellergroßen gelben "Judenstern" deutlich sichtbar auf der Kleidung zu tragen.

Joseph Carlebach hat sich wegen seiner offenen Worte in Predigten unbeliebt gemacht bei der Gestapo. Die Dunkelmänner sind fast jeden Sabbat in der Synagoge und schreiben mit. Sie wissen auch, dass er den Inhalt einer von den Nazis übersehenen Hamburger Synagoge nach Schweden rettet. Er weist in seinen Predigten auf Gestapo-Untaten hin und beerdigt Juden, die bei Zwangsarbeit ums Leben kommen.

Am 25. Oktober 1941 beginnen die großen Juden-Deportationen aus Hamburg. In vier Transporten werden bis zum 6. Dezember 3162 Hamburger Juden deportiert, nach Lodz, Minsk und Riga. In Riga werden im November/Dezember 27 800 einheimische Juden erschossen, um Platz für die Deportierten aus dem Reich zu schaffen. Insgesamt werden während der Nazizeit fast 9000 Hamburger Juden ermordet oder in den Tod getrieben.

Am 25. November 1941 verordnet die Regierung in Berlin, dass, wer als Jude seinen Wohnsitz im Ausland nimmt, automatisch sein Vermögen an das Reich verliert. Das gilt auch für die Deportierten. In Hamburg richtet die Finanzverwaltung dafür extra die "Vermögensverwertungsstelle" ein. Der bewegliche Besitz der deportierten Hamburger Juden wird versteigert - dabei sichern sich viele Hamburger das eine oder andere Schnäppchen.

Am selben Tag ergeht Befehl an die Carlebachs, sich im Logenhaus an der Moorweide einzufinden. Die "Abwanderung", so heißt das offiziell, soll am 4. Dezember erfolgen. Der Deportationszug Hamburg aber erst am 6. Dezember. Mit Carlebach werden seine Frau Charlotte und die vier Kinder Salomon, Noemi, Ruth und Sara und etwa 800 weitere Mitglieder der jüdischen Gemeinde abtransportiert. Ziel ist das KZ Jungfernhof bei Riga.

Dort organisiert Carlebach Unterricht und Gebete, legt die jüdischen Regeln so aus, dass sie das Leben unter diesen bitteren Umständen möglich machen. Selbst krank, strahlt er Ruhe aus und versucht, Hoffnung zu geben.

Am 20. Januar 1942 tagt in Berlin die Wannseekonferenz, auf der die "Endlösung" organisiert wird. Protokollführer: Adolf Eichmann.

Am 24. März 1942 wird es Juden in Deutschland verboten, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.

Am 26. März werden Joseph, Charlotte, Ruth, Noemi und Sara Carlebach in einem Wald bei Riga im Rahmen einer großen Vernichtungsaktion erschossen. Nur Salomon überlebt.

Am 11. November 1947 wird die Strafe gegen Joseph Carlebach wegen des Telefonbuchvergehens aufgehoben. Schlussvermerk des Oberstaatsanwalts dazu: "Akten weglegen, vernichten 1953". Sie blieben erhalten.

In Hamburg gibt es einen Joseph-Carlebach-Platz, eine Joseph-Carlebach-Schule, den Joseph-Carlebach-Preis. Trotzdem kann niemand Miriam Gillis-Carlebach von der fast physischen Angst befreien, dass der Name ihres Vaters vergessen wird. Sie hat die Akten durchgesehen: "Unverständlich, dass alle so mitgemacht haben - das waren doch nicht alles Gestapo-Leute." Nach einer langen Pause sagt sie: "Es sieht zwar nach außen hin nicht so schlimm aus. Aber das ist Auschwitz." Und erinnert sich erschüttert an eine Hausbewohnerin aus der Ostmarkstraße, die heute wieder Hallerstraße heißt. Die erzählte ihr in den 80er-Jahren, dass sie im Moment der Deportation von den Carlebachs einen großen runden Tisch haben wollte und deren Weigerung nicht verstand, weil "die Leute doch wussten, dass sie nicht mehr zurückkommen".