Wissenschaftler vernetzen sich bundesweit und arbeiten auch mit China zusammen, um die sich ausbreitende Krankheit zu besiegen.

Hamburg. Die Marckmannstraße in Rothenburgsort: Hinter den hohen Laubbäumen ist das massige Backsteingebäude mit den weißen Fenstern zunächst kaum auszumachen. Hier im Institut für Hygiene und Umwelt befindet sich derzeit das Hamburger Epizentrum bei der Suche nach dem unheimlichen EHEC-Erreger von Typ O104. Täglich liefern dort Mitarbeiter der Verbraucherschutzämter der Hamburger Bezirke Lebensmittelproben ab. "Man muss sich das wie einen Einkauf vorstellen", sagt Institutssprecherin Sinje Köpke. Ganze Gurken, beschriftet nach Herkunft und Produzent, werden dort abgegeben, Tomaten, Salatköpfe und anderes Gemüse. Bis zu 80 Proben täglich. Die Gemüse-Fahnder stöbern dazu in Kühlschränken von EHEC-Kranken nach Resten, die nicht aufgegessen wurden. Sie melden sich in Restaurants, die Patienten besucht hatten, sie suchen bei Discountern oder in Biomärkten und auf dem Großmarkt.

Der Fokus, so Sinja Köpke, liegt dabei auf rohem Gemüse, das nach den Patientenbefragungen bisher am dringendsten in Verdacht steht, mit EHEC belastet zu sein. Inzwischen werden die Proben aber ausgeweitet - auch Salatsoßen oder Kräuter werden nun zur genauen Untersuchung nach Rothenburgsort geliefert.

Es ist einer der weltweit größten EHEC-Ausbrüche aller Zeiten

Im Hygiene-Institut zerkleinern Labor-Fachkräfte die Lieferungen zu einer Art Brei und geben eine Nährlösung hinzu. Bei 37 Grad, eben der menschlichen Körpertemperatur, wird die Probe über Nacht gelagert. Mit zwei Analyseverfahren schauen die Hygieneforscher dann nach den sogenannten Shigatoxinen - jenen Giftstoffen, die von EHEC-Keimen produziert werden und im Körper von Menschen großen Schaden anrichten können.

Ist ein Befund positiv, gilt dies zunächst nur als Indiz. Ob der besonders aggressive Stamm O104, einer von mehr als 100 EHEC-Typen, sich gebildet hat, lässt sich erst nach vielen weiteren Tagen ermitteln. Dazu müssen die Forscher zunächst eine Reinkultur züchten. So hatte es auch länger gedauert, bis die spanischen Gurken vom Großmarkt vom Verdacht befreit waren. Sie trugen zwar EHEC-Keime, auch welche, die krank machen können - aber nicht jene, die aktuell für einen der weltweit größten EHEC-Ausbrüche aller Zeiten verantwortlich ist, wie es beim Robert-Koch-Institut in Berlin heißt.

Sogenannte Ausbruch-Teams der Berliner sind derzeit täglich in der Hansestadt unterwegs, um Patienten zu befragen. Die speziell ausgebildeten Epidemiologen versuchen dabei mit gezielten Fragen zu ermitteln, wo es bei der Vielzahl der Fälle Ähnlichkeiten gab. So kam die Warnung vor Tomaten, Salat und Gurken zustande, die noch immer nicht aufgehoben ist.

Außer an den vier Gurken konnten die Hamburger Hygiene-Forscher trotz der Vielzahl der Proben bisher aber keine weiteren EHEC-Keime entdecken. Viel versprechen sie sich jetzt von einem neuen Schnelltest, der von EHEC-Forschern der Uni Münster und dem Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin entwickelt wurde. Damit könnte es möglich sein, den aggressiven O104-Typ innerhalb eines Tages nachzuweisen - sowohl an Lebensmitteln als auch direkt bei Patienten. Die Hoffnung dabei: Je schneller der Nachweis, desto schneller ist auch die Quelle identifiziert. Doch etwas ganz anderes ist ebenfalls möglich, wie der Geschäftsführer des Hamburger Instituts, Hans-Joachim Breetz sagt: "Bei vielen EHEC-Ausbrüchen in der Vergangenheit wurde die Quelle des Keim auch nie gefunden."

Holger Rohde entschlüsselte mit chinesischer Hilfe das EHEC-Genom

Auf Spurensuche sind derzeit auch die Forscher der Universitätsklinikums Eppendorf (UKE). Während Kollegen auf den Intensivstationen mit Austausch von Blutplasma oder mit Antikörper-Therapie versuchten, Leben zu retten, sahen sich die Bakteriologen um Privatdozent Holger Rohde den gefährlichen Keim genauer an. Der 39-jährige Rohde, ein freundlicher Mann mit wuscheligem dunklem Haar, ist "Ur-Hamburger", wie er sagt. Und weil Hamburg der Schwerpunkt dieser neuartigen Darmkrankheit ist, war für sein Team der Ehrgeiz bald da, dass auch in Hamburg zuerst die Erbsubstanz des ebenso gefährlichen wie mysteriösen O104-EHEC-Typs entschlüsselt wird.

In tagelanger Arbeit züchteten die UKE-Forscher Bakterienkulturen heran. Schließlich war es in den Tagen vor Himmelfahrt so weit. Ein Kurier setzte sich mit den Kulturen ins Flugzeug. Ziel war China. Dort arbeitet ein Unternehmen, dessen Labor sich auf solche genetischen Erforschungen spezialisiert hat. Die Zeit drängte. Ihre Daten sendeten die Chinesen am Mittwoch via Internet nach Hamburg. Die UKE-Bakteriologen arbeiteten dann die Nacht durch und versuchten, aus den Daten eine Antwort zu finden, was noch vor Morgengrauen gelang: Die Erbsubstanz des O104 war sozusagen erstmals lesbar.

Die Zahl 104 beschrieb bisher nur eine einzige Eigenschaft. "Jetzt können wir viele Veränderungen erklären", sagt Rohde. Bei dem neuen Erregertyp handelt es sich um eine Kombination zweier Bakterienstämme. Eine Art Neugeburt mit fatalen Eigenschaften, die vor allem die schweren HUS-Komplikationen auslöst. Eine erste Analyse der DNA ergab: "Der Erreger kann den Darm erheblich länger und in größeren Mengen besiedeln als andere Bakterien", sagt Rohde. Dementsprechend könne der Erreger eine erheblich größere Menge Gift produzieren, was die schweren Komplikationen erkläre. Auf der Grundlage dieser Vermutung suche man jetzt nach neuen Therapieformen.

Die Mediziner denken jetzt wieder über den Einsatz von Antibiotika nach

Bisher galt, dass der Keim keinesfalls mit Antibiotika behandelt werden sollte, weil er dadurch - infolge einer Art Stressreaktion - sogar noch mehr Gift produzieren könnte. Nun denkt ein interdisziplinäres Forscherteam am UKE aber darüber nach, ob es nicht Sinn machen könnte, möglichst früh Antibiotika in hoher Konzentration zu geben, also den Keim heftig zu attackieren, bevor er überhaupt Gift produziert. "Die Überlegung ist, gewissermaßen mit der Faust dazwischenzuschlagen, um die Bakterien schlagartig auszulöschen", sagt Rohde.

Mehr als solche indirekten Herleitungen, was helfen könnte, sind aber derzeit nicht möglich. Die Forscher kennen jetzt zwar das Erbgut des Bakteriums, sie wissen aber erst ansatzweise, welche Funktion die einzelnen Gene erfüllen. Anders formuliert: Sie wissen, wie der Feind aussieht, aber nicht, wie er tickt. "Das genau zu erforschen, wird womöglich Jahre dauern", sagt Rohde. Dazu wollen sich die Hamburger jetzt stärker mit Kollegen in ganz Deutschland vernetzen. "Alle Expertisen müssen jetzt zusammengebracht werden", sagt Rohde.

Ob die Antikörper-Therapie wirkt, kann erst in Wochen gesagt werden

Bundesweit zusammenarbeiten wollen jetzt auch die Ärzte, die EHEC- und HUS-Patienten behandeln. Unter anderem sei ein Register eingerichtet worden, in dem für jeden Patienten festgehalten werde, ob der Austausch des Blutplasmas (Plasmapherese), die wichtigste Behandlungsmethode bei HUS, und der Einsatz des neuen Antikörpers Eculizumab eine Verbesserung bringen, sagte Prof. Reinhard Brunkhorst, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie. An der Datenbank beteiligten sich derzeit 15 Krankenhäuser, darunter die Universitätskliniken in Hamburg, Hannover und Kiel. Die norddeutschen Kliniken hätten sich zudem auf folgendes Vorgehen bei der Behandlung geeinigt: Kommt es bei einem EHEC-Patienten zu HUS, erhält er bis zu viermal eine Plasmapherese. Zeigt sich keine Verbesserung, erhält der Patient einmalig Eculizumab. Bringt selbst das nichts, kombinieren die Ärzte beide Behandlungen.

Da die Plasmapherese bei einem Teil der Patienten gar nicht oder erst spät wirkt, kommt immer häufiger der Antikörper zum Einsatz. Am UKE werden mittlerweile 49 HUS-Patienten mit Eculizumab behandelt - zu Beginn der Woche waren es zwölf. HUS sei sehr komplex, sagte Nierenspezialist Prof. Rolf Stahl, Direktor der III. Medizinischen Klinik am UKE. Ob der Antikörper wirke, sei noch nicht zu sagen.

Und dann sagt er noch, was Forscher in diesen Tagen oft sagen mussten: "Wir werden einige Wochen warten müssen, bis wir hier eine gesicherte Datenlage haben."