Olaf Scholz, Spitzenkandidat der SPD für das Bürgermeisteramt in Hamburg, ist zehn Tage vor der Wahl der beliebteste aktive Politiker.

Hamburg. Den Spontaneitätstest besteht Olaf Scholz an diesem Abend nicht. "Olaf, glaubst du, dass St. Pauli in der Bundesliga bleibt?", fragt ein junger Parteifreund. Der SPD-Bürgermeisterkandidat zögert ein wenig zu lange, dann sagt er: "Zwei Hamburger Vereine in der Bundesliga, das ist doch super." Das ist mehr eine Zustandsbeschreibung als eine Antwort auf die Frage.

Das nächste Thema ist die von der SPD angekündigte Abschaffung der Studiengebühren. Da kennt sich Scholz offensichtlich besser aus als im Fußball, vertrautes Terrain also. Wenn ein junger Mensch als Erster in seiner Familie die Chance habe zu studieren, so Scholz, dann dürfe das nicht am Geld scheitern. Und dann folgt ein Ausflug ins Private, den er sich sonst kaum unter den Augen der Öffentlichkeit gestattet. "Meine Eltern haben allen drei Kindern ein Studium ermöglicht", sagt Scholz, der vor seiner Politikerkarriere 13 Jahre als Fachanwalt für Arbeitsrecht tätig war. "Ohne BAföG, das Einkommen lag knapp oberhalb der Bemessungsgrenze", setzt er noch hinzu. Das soll wohl heißen: Leicht war das damals auch für seine Eltern nicht. Und dann noch Studiengebühren obendrauf?

Heute Abend ist er in Barmbek, der alten SPD-Hochburg. Hier ist Helmut Schmidt aufgewachsen. Mehr als 200 Menschen sind in das Museum der Arbeit gekommen. Immer wenn Scholz auftritt, sind viele Leute da. So ist das in diesem Wahlkampf.

"Olaf Scholz im Gespräch" heißt die Reihe, mit der der SPD-Spitzenkandidat durch die Stadt tourt. Es ist seine Form des Wahlkampfs, er hat sie lange in seiner Heimat Altona in kleinem Rahmen ausprobiert. Seit 1998 sitzt er für den Wahlkreis Altona/Elbvororte im Bundestag - mit einer Unterbrechung von 2001 bis 2002. Zuhören, Fragen und Sorgen der Bürger ernst nehmen und mit ebenso großem Ernst antworten, Politik erklären - das ist seine Stärke, die er nun auch in seiner bislang größten und wichtigsten Kampagne - dem Rennen um das Bürgermeisteramt im Rathaus - ausspielen will. Scholz ist nicht der Typ Politiker, der am U-Bahn-Ausgang Rosen verteilt.

Das Museum der Arbeit ist da passender. Scholz' Mitarbeiter verweisen stolz darauf, dass bis zu 600 Menschen zu den Gesprächsrunden kommen. Und auch dem Kandidaten selbst ist nicht entgangen, dass bei Amtsinhaber Christoph Ahlhaus von der CDU deutlich weniger Interessierte vorbeischauen. Den Hinweis erlaubt er sich dann doch in einem Moment der Entspannung nach einem langen Tag und lacht dabei vergnügt in sich hinein, während die wachen Augen sein Gegenüber lauernd fixieren. Scholz macht Politik mit dem Kopf, nicht aus dem Bauch heraus. Stets geht es ihm darum zu sehen, welche Wirkung seine Worte entfalten. Er vertraut weniger, er kontrolliert lieber.

Dass ausgerechnet Scholz, ein seine Nüchternheit geradezu stilisierender Intellektueller, zum Magneten des Wahlkampfs wird, hat schon etwas Kurioses. Möglich ist das wohl auch nur, weil die Auseinandersetzung insgesamt eher etwas lahm ist. Die Lage scheint zu eindeutig: Die Umfragewerte haben die SPD und ihren Spitzenkandidaten in anscheinend unerreichbare Höhen katapultiert - zuletzt auf 46 Prozent. Soziologen sprechen vom Mitläufereffekt: Vor allem unentschlossene Wähler stehen gern auf der Gewinnerseite und geben bevorzugt dem Kandidaten ihre Stimmen, von dem sie meinen, dass er Erfolg haben wird.

Dass Scholz die Sympathien plötzlich zufliegen, kann er selbst nur als Genugtuung empfinden. Er ist andererseits selbstbewusst genug, das als verdient zu empfinden. Zu beobachten ist die seltsame Wandlung vom soliden, aber spröden Parteiarbeiter, dem als höchstes Lob stets nur Respekt entgegengebracht wurde, zum beliebtesten aktiven Politiker der Stadt.

Einer übrigens, der sein Privatleben weitgehend abschottet: Scholz lebt mit seiner Frau Britta Ernst seit Jahren in einer bescheidenen Altbauwohnung in Altona - zur Miete. Ernst verfolgt ihren eigenen poltischen Weg: Sie ist parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bürgerschaftsfraktion.

Die politische Karriere des Altonaers ist eine Abfolge von steilen Aufstiegen und ebenso jähen Abstürzen. Kaum 1998 in den Bundestag gekommen, stieg er schnell zum Fraktionsvize auf. Das fördernde Auge von Kanzler Gerhard Schröder erkannte schnell das Talent. Dann sprang Scholz, ganz Parteisoldat, 2001 als Helfer in der Not in Hamburg ein: Doch er konnte als markiger Innensenator ("Ich bin liberal, aber nicht doof") das Blatt nicht mehr wenden. Die SPD verlor nach 44 Jahren die Macht im Rathaus. Der Wiedereinstieg gelang ihm 2002 mit dem erneuten Einzug in den Bundestag. Ein Katapultstart: Schröder machte ihn schnell zum SPD-Generalsekretär als Nachfolger von Franz Müntefering. Jetzt wurde Scholz bundesweit bekannt - unrühmlich. Es war seine wohl schwierigste Zeit: Er wurde als treuer Knappe Schröders in der Debatte über die umstrittene Agenda 2010 und die Hartz-IV-Reformen wahrgenommen. Weil er seine Rolle mit bisweilen sprechblasenartigen Redebeiträgen ausfüllte, trug ihm das den wenig schmeichelhaften Beinamen "Scholzomat" ein. Im Frühjahr 2004 war Schluss, Scholz trat zurück.

"Ich bin mehrfach volles Risiko gegangen", sagt Scholz rückblickend. Zwischen zwei Terminen sitzt er in seinem Büro in der SPD-Zentrale in St. Georg. Das dunkle Jackett hat er akkurat über einen Stuhl gehängt. Er trägt wie immer ein weißes Oberhemd und eine rote Krawatte dazu.

Man kann es auch so sehen: Scholz war loyal bis zur Selbstaufgabe. In der Sache von den schröderschen Reformen überzeugt, hat er alle auch innerparteilichen Nackenschläge stoisch ertragen. Vor allem für den linken Parteiflügel und die Gewerkschafter war Scholz, der selbst einmal in den 70er- und 80er-Jahren als Linker begonnen hatte, ein rotes Tuch. Für andere Politikerkarrieren hätte das Scheitern als SPD-Generalsekretär das Aus bedeutet. Nicht für Scholz: In der Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel wurde der Arbeitsrechtler Ende 2007 Arbeits- und Sozialminister.

Als Kabinettsmitglied konnte Scholz mit seiner Art, Politik zu betreiben, reüssieren: zäh und entschlossen in der Sache, ein harter, aber fairer Verhandler gerade auch innerhalb des Bündnisses. Kein Geringerer als Helmut Schmidt hat den Altonaer später geadelt. Zwei Politiker, urteilte der Altkanzler, hätten dafür gesorgt, dass Deutschland gut durch die Weltfinanzkrise gekommen sei: Peer Steinbrück in der Finanz- und Olaf Scholz in der Arbeitsmarktpolitik. Dass der auch seine Lektion Machtpolitik gelernt hat, zeigte sich, als die SPD 2009 in der Opposition gelandet war: Während der Tage des Führungsvakuums erwies sich Scholz als gewiefter Strippenzieher in eigener Sache: Auch ohne Hausmacht - die Hamburger SPD spielt im Bundeskonzert kaum eine Rolle - wurde Scholz Partei- und Fraktionsvize. Er ist es bis heute. Das Parteiamt wird er auch nicht aufgeben, falls er Bürgermeister wird.

Scholz hat seine neue Hamburger Rolle als Hoffnungsträger einer vor Kurzem noch zerstrittenen und verunsicherten Partei nicht gesucht, aber er hat sie entschlossen angenommen. Dabei entspricht seinem nicht geringen Selbstanspruch die Bundespolitik eindeutig mehr. Früher hat er klar zu erkennen gegeben, dass seiner Ansicht nach die entscheidenden Stellschrauben der politischen Veränderung nun mal im Bundestag und in der Bundesregierung zu bewegen sind.

Und nun soll alles anders sein? Hamburg ist in Scholz' Koordinatensystem auch jetzt nicht der Nabel der Welt. Er weiß zu genau, dass der Hamburger "Ministerpräsident" in Berlin lange Klinken putzen muss, um Gehör zu finden. Neu ist dagegen für Scholz die Erfahrung, in seiner Heimatstadt beliebt zu sein. Und so haben hohe Sympathiewerte offensichtlich auch etwas Verführerisches. "Ich fühle mich schon gepinselt, wenn ich jetzt immer auf die absolute Mehrheit angesprochen werde", bekannte Scholz vor wenigen Tagen, als er sich zusammen mit dem Reeder und SPD-Bürgerschaftskandidaten Erck Rickmers dessen Freunden und Geschäftspartnern präsentierte. "Dann mache ich eine Pause und sage schließlich: Aber ich bin Realist." Das ist nicht frei von Koketterie, und Bescheidenheit klingt auch anders. Dass der Vernunftmensch Scholz so viel von seinen Gefühlen preisgibt, zeigt auch, wie stark seine Eitelkeit berührt ist.

Sicher: Olaf Scholz hat aus Fehlern und Niederlagen gelernt. Er spricht heute freier, obwohl seine Sätze bisweilen immer noch zu lang sind. Und er quält nach wie vor sein Gegenüber mit nichtssagenden Wiederholungen, wenn er partout nicht antworten will. Aber er hat sich das Verbiesterte und Roboterhafte seiner Rede abtrainiert. Nein, sagt er, keine Rhetorikkurse. "Mit dem Alter wird man auch lockerer", so der 52-Jährige und gnickert vor Vergnügen in sich hinein. Meint er das ernst? Er müsse, setzt er noch hinzu, nicht mehr stets behaupten, dass er die richtigen Ideen der anderen auch schon im Kopf hatte.

Doch das ist es nicht. Scholz' Umfragenerfolge haben nicht mit einer charakterlichen Wandlung zu tun, die es ohnehin nicht gibt.

Nach den, sagen wir, bunten Jahren mit Bürgermeister Ole von Beust, dem freundlichen und überzeugenden Kommunikator, bietet Olaf Scholz nun ein Kontrastprogramm zur Wahl an: sich selbst. Nichts liegt dem biederen Politikarbeiter ferner als Unterhaltung oder Politik-Glamour. Scholz hat die Fehler der späten Von-Beust-Jahre, als das Regierungsschiff zunehmend ins Schlingern geriet, analysiert und schonungslos ausgenutzt. Scholz verspricht einfach, "gut zu regieren", auch wenn es vielleicht etwas langweiliger ist. Es scheint so, als ob die Hamburger auf einen verlässlichen Regierungshandwerker gewartet haben.

Scholz hat bei Schröder gelernt, und auch von Beust hat seine großen Wahlerfolge nicht anders erzielt: Es geht um die Eroberung der politischen Mitte. Deswegen hat Scholz Handelskammer-Präses Frank Horch zum Schatten-Wirtschaftssenator gemacht. Deswegen war es ihm wichtig, dass Reeder Rickmers für die Bürgerschaft kandidiert. Die SPD soll für bürgerlich-konservative Kreise wählbar sein. Da passt es gut ins Konzept, dass er der GAL bis zur Wahl die kalte Schulter zeigt. Die grüne Kernwählerschaft mit lockenden Angeboten zu umgarnen bringt keine Mehrheiten.

Scholz stellt sich auf die Regierungsverantwortung ein. Vielleicht schon zu stark. Ahlhaus hat einen guten Punkt gemacht, als er Scholz vorwarf, keine Demut vor den Wählern zu zeigen. Scholz tue so, als sei er schon gewählt. "Du musst jede Arroganz vermeiden", hat ein Wohlmeinender Scholz im Museum der Arbeit geraten. "Ich sage mir jeden Morgen das Gleiche", antwortete der knapp. Vielleicht zu knapp.

Es ist ja wahr: Scholz denkt längst weiter. Er hat schon gesagt, dass er sich darum bemühen wird, so gut zu regieren, dass er in vier Jahren wiedergewählt wird. Er versteht nicht, dass ihm auch das als Arroganz ausgelegt wird. Scholz' Logik geht anders: Einer, der den Begriff Verantwortung neben seinem Konterfei plakatieren lässt, wird nicht nach ein paar Jahren in Richtung Berlin abhauen, wenn die Wähler ihm ein weiteres Votum geben. In acht Jahren aber ist er 60 Jahre alt, wohl zu alt, um noch einmal auf Bundesebene durchzustarten. Insofern ist diese Bürgerschaftswahl auch seine persönliche Richtungsentscheidung.

Vorbilder unter den Hamburger Bürgermeistern nennt er nicht. Er spricht lieber von Respekt. Dann fällt ihm ein, was auf den Plakaten stand, die er als junger Sozialdemokrat 1978 in seinem ersten Wahlkampf klebte: "Wir lieben Hamburg und wählen Hans-Ulrich Klose." Der holte damals die absolute Mehrheit für die SPD. Erinnerung kann beflügeln.