Der Diabetes Typ 2 breitet sich heute immer mehr aus. Besonders wichtig in der Therapie ist eine Änderung des Lebensstils.

Heute waren es wieder zwölf. Professor Manfred Dreyer sitzt am hellen Schreibtisch in seinem Sprechzimmer im zweiten Stock des Asklepios-Westklinikums in Hamburg Rissen und schließt die Akte seines letzten Neuankömmlings für diesen Tag. Wie bei den elf anderen liegt auch bei diesem Patienten eine Diagnose vor, die aus drei Wörtern und einer Zahl besteht: Diabetes mellitus, Typ 2.

Wörtlich übersetzt bedeutet dieser griechische Ausdruck "honigsüßer Durchfluss". Das ist ein schöner Name für eine ernsthafte und gefährliche Zivilisationskrankheit, die hauptsächlich Menschen befällt, die zu viel essen und sich gleichzeitig zu wenig bewegen. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Zeit zwischen 1945 und 1947, war sie in Deutschland nicht vorhanden. "Weil es damals für die meisten Menschen nicht genügend zu essen gab und viele sogar hungerten", erklärt Dreyer. Heute hingegen tischen wir alles im Überfluss auf; gerade Fleisch und Süßwaren, die klassischen Dickmacher, werden in viel zu großen und ungesunden Mengen konsumiert.

Das Ergebnis: Jeder vierte Übergewichtige zwischen 60 und 80 Jahren erkrankt an dem auch als "Alterszucker" bezeichneten Diabetes Typ 2. Dagegen entwickelt nicht einmal jeder Hundertste normalgewichtige Mensch einen Typ-2-Diabetes. Auch immer mehr jüngere Menschen werden zuckerkrank - oft weil sie sich zu wenig bewegen, und weil Übergewicht ein wachsendes Problem unserer Gesellschaft ist. "Mehr als 70 Prozent aller Patienten mit Diabetes sind zu dick. Da kommt die Diagnose oft nicht überraschend", sagt Professor Dreyer. Der 60-Jährige ist seit mehr als 20 Jahren Diabetologe, er leitet das Zentrum für Innere Medizin im Asklepios-Westklinikum. "Jedes Jahr kommen mehr zuckerkranke Patienten auf meine Station", sagt er. Daher ist ein Diabetologe auch nicht genug: In ganz Hamburg arbeiten mittlerweile 80 Diabetologen, vor 20 Jahren waren nicht einmal zehn Ärzte auf dieses Fachgebiet spezialisiert.

6,6 Millionen Typ-2-Diabetiker gibt es in Deutschland, in Hamburg wird ihre Zahl auf rund 132 000 geschätzt. Doch schätzungsweise ein Drittel der Betroffenen wissen nicht einmal etwas von ihrer Krankheit. Die klassischen Symptome wie übermäßig großer Durst, häufiges Wasserlassen, Müdigkeit und Antriebslosigkeit, sagt Professor Dreyer, träten nämlich erst bei deutlich erhöhten Blutzuckerwerten ein. "Deshalb empfehle ich jedem, der sein 50. Lebensjahr erreicht hat, mindestens einmal jährlich beim Hausarzt im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung seinen Blutzuckerwert messen zu lassen." Dazu reicht ein Tropfen Blut aus der Fingerkuppe und eine Zeitinvestition von 20 Sekunden, die aber möglicherweise vor ernsten Beschwerden schützen kann.

Wenn morgens beim Blutzuckertest Werte jenseits der 126 mg Glukose pro Deziliter Blut gemessen werden, liegt wahrscheinlich ein Diabetes vor. Wird ein solcher Wert ein zweites Mal gemessen, gilt die Diagnose als gesichert. Der Volksmund verbindet mit der Zuckerkrankheit lebenslanges Essen nach strikten Diätplänen. Das war vor 30 Jahren noch richtig, trifft aber heute für die allermeisten Fälle von Diabetes längst nicht mehr zu.

Das gilt auch für die andere Diabetesform, den Diabetes mellitus, Typ 1. Dieser kommt deutschlandweit nur bei rund 550 000 Menschen vor und ist damit wesentlich seltener als der Typ 2. Im Gegensatz zum Alterszucker zerstören beim ersten Diabetestypus körpereigene Zellen die eigene Insulinproduktion in der Bauchspeicheldrüse komplett und unwiderruflich. Betroffen sind vor allem schlanke, junge Menschen, die nach der Diagnose lebenslang Insulin spritzen müssen. Die Ursache für diese Erkrankung ist nicht endgültig geklärt. Mit dem Lebensstil habe sie jedenfalls nichts zu tun, meint Professor Dreyer.

Ganz im Gegenteil zu den Zweiertypen, für die es neben den schädlichen Gewohnheiten, die zu Übergewicht führen, zusätzlich noch eine erbliche Veranlagung gibt. Erkrankte haben aber auch die Möglichkeit, diese Erkrankung vorübergehend wieder loszuwerden. "Zumindest wenn sie ihren Lebensstil ändern", meint Dreyer. Insulin wirkt nämlich umso besser, je weniger Gewicht ein Mensch auf die Waage bringt und je mehr er sich bewegt oder sportlich betätigt.

Das lebenswichtige Hormon Insulin wird in den Langerhans-Inseln in der Bauchspeicheldrüse hergestellt und von dort in den Blutkreislauf ausgeschüttet. Hier dockt das Insulin an die Zellen an, um diese wie ein Schlüssel zu öffnen, damit sie Zucker aufnehmen können. Ohne Insulin gelangt der Zucker nicht in die Zellen, wo er in Energie umgewandelt werden sollte - die Zuckermoleküle bleiben im Blut, wo sie mittelfristig Nervengewebe und auch die kleinsten Blutgefäße schädigen oder gar zerstören können. "Darum ist es auch so gefährlich, wenn der Diabetes unentdeckt bleibt", sagt Professor Dreyer. Ein über längere Zeit erhöhter Blutzuckerspiegel kann Impotenz, Blindheit oder eine Mangeldurchblutung von Gliedmaßen zur Folge haben, die im schlimmsten Fall zur Amputation führen kann. Wer es dagegen schafft, seinen Blutzuckerspiegel signifikant zu senken, muss nicht einmal das tun, was gemeinhin mit Diabetes verbunden wird, nämlich sich selbst Insulin zu spritzen. "Gut eingestellte Diabetiker können über lange Zeit mit zwei oder drei Tabletten am Tag auskommen", sagt Dreyer. Manche Medikamente sorgen dafür, dass die Zellen leichter Insulin aufnehmen. Andere erreichen ihre blutzuckersenkende Wirkung durch eine Reduzierung der Zuckerausschüttung. Der Effekt ist bei allen gleich: Der Blutzuckerspiegel sinkt, das Wohlbefinden des Patienten steigt.

Gerade in Hamburg sind die Behandlungsmöglichkeiten für Diabetiker so gut wie in kaum einer anderen deutschen Metropole: 18 Diabetologische Schwerpunktpraxen findet man über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Sechs Krankenhäuser verfügen über diabetologische Fachabteilungen - neben dem Westklinikum sind das die Asklepios-Häuser in Barmbek und St. Georg und das im Januar 2011 neu eröffnete Diakonie-Klinikum Hamburg in Eimsbüttel sowie das Katholische Kinderkrankenhaus Wilhelmstift in Rahlstedt und das Altonaer Kinderkrankenhaus.

In der Theorie haben Hamburgs Typ-2-Diabetiker also beste Chancen, ihre Krankheit in den Griff zu bekommen. In der Theorie. "Aber der langsame und schleichende Krankheitsverlauf verleitet viele Patienten dazu, den Diabetes und seine Folgen massiv zu unterschätzen", sagt Professor Dreyer. Einigen Patienten fehle es allerdings leider auch schlicht am notwendigen Durchhaltewillen, den es braucht, um schlechte Lebensgewohnheiten zu verändern und diese Veränderungen langfristig und konsequent durchzuhalten. Der Arzt vereinbart daher stets mit seinen Neuankömmlingen Ziele, die individuell erreichbar sind - kleine Schritte auf dem Weg zu einer großen Umstellung. "Ich bin da oft mehr Motivationstrainer als Mediziner", sagt der Diabetologe.

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