Jared Loughner, der in Tucson sechs Menschen erschoss und eine Politikerin schwer verletzte, glaubte, auserwählt zu sein. Wie viele vor ihm.

Hunderttausend Israelis haben sich bei der Friedenskundgebung am 4. November 1995 auf dem Platz der Könige in Tel Aviv gesammelt, um ihrem Helden zuzujubeln: Jitzchak Rabin, 73, dem Architekten des Osloer Friedensabkommens mit den Palästinensern. Der jüdische Fundamentalist Yigal Amir passt den Moment ab, in dem Rabin die Bühne wieder verlässt, und schießt ihn nieder. Rabin stirbt noch am Abend im Krankenhaus. "Ich wollte das jüdische Volk retten", sagt Amir nach seiner Festnahme.

Charlotte Corday wollte das französische Volk retten, als sie 1793 den Jakobiner Jean-Paul Marat erstach. Adelheid Streidel, die den SPD-Politiker Oskar Lafontaine 1990 in der Köln-Mülheimer Stadthalle mit einem Messer anfiel, wollte die Deutschen vor Menschenversuchen retten, die "die Regierung" nach ihrer Überzeugung in unterirdischen Lagern veranstaltete. Jared Loughner, der in Tucson am vorigen Wochenende sechs Menschen erschoss und die demokratische Politikerin Gabrielle Giffords schwer verletzte, war überzeugt, dass die US-Regierung die Gehirne der Bürger kontrolliert.

Was Einzel-Attentäter aller Länder eint, ist das Gefühl einer hochmoralischen Verpflichtung. Sie wollen durch ihre Tat ein gewichtiges, gar ein Welt-Übel beseitigen, Gerechtigkeit herstellen. Sie wollen damit als Lichtgestalt in die Geschichte eingehen.

Aber sie retten nicht die Welt, sondern landen hinter Gittern oder in der Psychiatrie. Nach Jahren bleibt von ihnen höchstens ein Foto, die Namen werden vergessen. Und statt den Faltenwurf der Geschichte zu ändern, erzeugen ihre Taten Entsetzen, Unverständnis, haben schwerwiegende, ungewollte Folgen. Die Ermordung Jitzchak Rabins fror nicht nur einen Ausgleich mit den Palästinensern bis heute ein, sie vertiefte auch die Konflikte zwischen säkularen und orthodoxen Israelis. Nach dem Attentat auf die schwedische Außenministerin Anna Lindh 2003 verstärkte Schweden die Sicherheitsvorkehrungen für Politiker und Parlamentarier - und damit ihre Trennung vom Volk. Jared Loughners Tat hat die politische Spaltung in den USA verschärft.

Und vor allem: Jedes Attentat trägt in sich die Saat des nächsten, sagt der Bochumer Germanist und Medienwissenschaftler Manfred Schneider. Vor zwei Monaten erschien sein Buch "Attentate", die erste kulturwissenschaftliche Einordnung dieses Gewaltphänomens. Er ahnte nicht, dass seitdem schon zwei neue Fälle dazukommen würden - das misslungene Bombenattentat Taimur Abdulwahabs in Stockholm und jetzt das "Tucson Shooting".

Der Fall Loughner sei "wie aus meinem Buch herausgesprungen", sagt Schneider im Gespräch in Hamburg. "Er ist offenbar einer dieser Männer, die aus ihren familiären und symbolischen Zusammenhängen herausgestürzt sind. Seine Paranoia bezieht sich auf die Macht selbst: Er glaubt, dass von der US-Regierung eine ,mind control' ausgeübt wird." Loughner zeige typische Züge einer Paranoia; er habe Botschaften hinterlassen, die seine Tat erklären und verklären sollen; auf seiner Internetseite spricht Loughner von "new currency" (Umgang, aber auch Strömung oder Sprache): Er will, dass Worte wieder etwas bedeuten . "Und er bringt wie andere Attentäter dieses persönliche Apokalypse-Gefühl zum Ausdruck: dass er mit seinem Tod rechnet."

Die meisten Attentäter wurden nach den ersten Verhören, spätestens im Prozess vor Gericht als geistig verwirrt, psychisch gestört oder verrückt bezeichnet. Schneider beschreibt ihren Zustand anders. "Sie sind Paranoiker, aber nicht verrückt. Sie haben einen hohen Sinn für Rationalität bewahrt. Ein Psychiater im 19. Jahrhundert hat gesagt: Der Paranoiker hat nicht seine Vernunft verloren, sondern alles außer seiner Vernunft."

Die Paranoia der Attentäter, erklärt Schneider, funktioniert ähnlich wie bei dem ersten literarischen Super-Detektiv Sherlock Holmes. Sie registrieren Zeichen, Spuren und Geschehnisse, die niemand sonst entdeckt, und deuten sie in einer wahnhaft eingeengten Weise: Alle Zeichen scheinen eine Hypothese zu bestätigen, nämlich dass eine große Ungerechtigkeit, eine Verschwörung, eine fast unabwendbare Gefahr im Gang ist. Zufälle oder Unwahrscheinlichkeiten gibt es für den Paranoiker nicht mehr, nur noch eine sich ständig erweiternde Beweiskette.

"Aber zu ihrem wahnhaften Schluss", sagt Schneider, "kommen sie durch eigentlich rationale Überlegungen." Durch die scheinbar zwingenden Beweise bilde sich dann eine "Fatumsgewissheit": Das Gefühl, sie seien vom Schicksal (lateinisch: fatum) für die besondere Aufgabe auserwählt, das Problem mit einem gewaltigen Befreiungsschlag zu lösen. "Die Angehörigen und Freunde von Attentätern berichten später fast immer übereinstimmend, was für ein sanfter, liebenswerter, freundlicher, harmloser Mensch der Täter im vorparanoischen Zustand gewesen sei, dass sie ihm das niemals zugetraut hätten." Und so sei oft auch das Selbstbild der Täter: ",Ich bin kein Killer. Aber jetzt hat sich meine Vermutung bestätigt, jetzt zeigt sich die Notwendigkeit, dass gehandelt werden muss. Ich bin dazu ausersehen - und koste es mein Leben.'"

Paranoia - ein Verfolgungswahn, die wahnhafte Annahme einer drohenden Gefahr - ist lange Zeit als Symptom der Schizophrenie gesehen worden. Heute sind die Zuordnungen nicht mehr so klar. Neurotiker können paranoide Züge aufweisen. Umgekehrt sind Schizophrenie-Patienten häufig neurotisch. Studien zeigen, dass sogar geistig völlig Gesunde in starken Stresssituationen schizophrene Züge entwickeln können - etwa in Geiselhaft, nach Schlafentzug, Isolation oder in einer schalldichten Zelle ohne Tageslicht. Sie hören Stimmen, haben Halluzinationen.

Viele Attentäter und Attentäterinnen wurden vor Gericht als schuldunfähig befunden, weil ihnen psychiatrische Gutachten Schizophrenie attestierten, und in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Einige waren schon vor der Tat psychisch auffällig geworden. Aber nicht alle. Was den Ausnahmezustand provoziert, in den sie sich hineinsteigern, bleibt offen. Dennoch - und das bestätigt Schneiders Beschreibung von der "rasenden Vernunft" - ist ein Attentat wie das in Tucson eine politische Tat. Sie geschah nicht in einem rein eingebildeten, geschichtslosen Raum. "Man kann fragen: Ist es nun der hirnpsychologische Prozess, der das Attentat hervorbringt, oder ist es der intellektuelle Prozess, der den neuropsychischen Ausnahmezustand herbeiführt?"

Die Schicksalsgewissheit muss jedenfalls erarbeitet, munitioniert werden. Attentäter sind fast immer intensive Leser. Mark David Chapman, der Attentäter von John Lennon, war ein begeisterter Fan von J.D. Salingers "Der Fänger im Roggen" (The Catcher in The Rye). Er identifizierte sich mit der Hauptfigur Holden Caulfield und empfahl das Buch allen Freunden. Als Chapman am 8. Dezember 1980 den Beatles-Star vor dem Dakota-Building in New York erschoss, sang er vor sich hin: "The phony must die, says the catcher in the rye." Als "phony" bezeichnete Caulfield im Roman die verlogene Welt der Erwachsenen.

John Hinckley wollte eigentlich studieren, besorgte sich aber in der Bibliothek Literatur über Flugzeugentführer und Serienmörder. Schon 1980 klagt er über Schwindel, Depressionen und Schlaflosigkeit, weshalb ihn seine Eltern in ärztliche Behandlung geben. Er fährt nach New York zur Totenwache für John Lennon, kauft sich später in Denver eine Pistole Kaliber .38, wie auch Chapman sie benutzt hat, und ein Exemplar von "Der Fänger im Roggen". Am 30. März 1981 verübt er einen Anschlag auf US-Präsident Ronald Reagan, der misslingt. In einem Abschiedsbrief an die Schauspielerin Jodie Foster gesteht Hinckley, er hoffe, "mit dieser geschichtlichen Tat deine Achtung und deine Liebe zu gewinnen".

Es ist auffällig, wie viele Attentäter sich aufeinander beziehen, Berichte über Vorgänger studiert haben, einzelne von deren Symbolen kopieren wollen. Sie kennen die Vorgeschichte, "sie wollen sich selbst einreihen in die ,Familie der Königsmörder'", sagt Schneider. In dieser Gruppe, glauben sie, könnten sie einen Ersatz für ihre ansonsten ruinierten sozialen Beziehungen finden. Nicht wenige Attentäter geben sich neue Namen - als gehörten sie jetzt einer neuen Familie, einer exklusiven Bruderschaft an.

In der ersten großen Attentats-Untersuchung "Der politische Mord" schrieb der amerikanische Historiker Franklin L. Ford 1985, er habe mehr Einzeltäter als politische Verschwörungen oder gedungene Mörder gezählt. Die Zahl der politischen Attentate nahmen laut Ford zu Beginn des 20. Jahrhunderts beträchtlich zu.

Während er im 19. Jahrhundert in Europa etwa 100 zusammenrechnete, waren es in den ersten 80 Jahren des 20. Jahrhunderts fast 700, mehr als die Hälfte davon nach 1950. Nach dem Ersten Weltkrieg häuften sich organisierte Anschläge in der Weimarer Zeit und in der Nazi-Zeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Europa die Terroranschläge der RAF, der Roten Brigaden, der IRA, der Eta und der palästinensischen Befreiungsfront, die zum Teil Hand in Hand arbeiteten. Nach Fords Einschätzung mehrten sich Attentate gerade in nachrevolutionären, nachkolonialen und Nachkriegs-Zeiten.

Dass sie aber auch in demokratischen Gesellschaften eine Dauer-erscheinung sind, deren Verfassungen doch Transparenz und Öffentlichkeit versprechen, wundert Manfred Schneider nicht. "Gerade deshalb entsteht immer ein Verdacht, dass eben doch nicht alles mit rechten Dingen zugeht, dass hinter den Kulissen gekungelt wird." Ein solcher Verdacht kann dem paranoiden Wahn Nahrung geben. Im absolutistischen Staat fielen Beschlüsse im geschlossenen Kabinett, Geheimdiplomatie war Usus. Der Souverän oder Tyrann war als Machtmensch keine zweideutige Figur. "Der moderne demokratische Politiker dagegen ist zweideutig. Denn er hat Macht, tut aber so, als hätte er keine", sagt Schneider. Es bleibt für den politischen Paranoiker immer etwas "aufzudecken".

Umgekehrt trägt auch die Reaktion der offenen Gesellschaft auf die Attentäter Züge von Paranoia. Es gab eine Zeit, da konnte man ein großes Unternehmen oder ein Ministerium oder ein Flugzeug noch ohne Metalldetektor und Kontrollen betreten. Diese Zeit endete mit der RAF. Inzwischen denken die Verantwortlichen in Staat und Wirtschaft die Möglichkeit des Attentats permanent mit. Der islamistische Terror - der ja auch Einzeltäter hervorbringt wie Mohammed Bouyeri, der den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh tötete - setzt die weltoffene, freiheitsliebende Gesellschaft unter neuen Stress, unter Erklärungs- und Abwehrzwang.

Zähneknirschend akzeptieren die Bürger Sicherheitsbestimmungen, Videokameras, Zutrittsbeschränkungen im öffentlichen und Datenkontrolle im privaten Raum. Die demokratischen Freiheiten sind schon längst im Fadenkreuz, bevor die nächste Waffe gezückt wird.

Bei Einzeltätern greifen diese Maßnahmen ohnehin nicht. Polizei und Sicherheitsfirmen können die entfesselte Fantasie von Attentätern wie Sirhan Sirhan (Robert Kennedy), Volkert van der Graaf (Pim Fortuyn), Mijail Mijailowicz (Anna Lindh), Dieter Kaufmann (Wolfgang Schäuble), Adelheid Streidel (Oskar Lafontaine) oder Jared Loughner in Tucson nicht präventiv erahnen. Schäuble und Lafontaine wurden bei Wahlkampfveranstaltungen angefallen, Anna Lindh in der Damenabteilung eines Kaufhauses, Gabrielle Giffords bei einem Treffen mit Wählern - und trotz Bodyguards.

Das Attentat ist eine moderne Erscheinung, eine Herausforderung und ein "Dämon der liberalen Weltverbesserung", wie Schneider schreibt. Niemand kann diesen Dämon bannen, nicht einmal der Papst. Johannes Paul II. hatte die Größe, seinem Attentäter Ali Agca zu verzeihen. Das konnte er nur, weil er knapp überlebt hatte.