Volle Regale in den Supermärkten gaukeln eine heile Welt vor. Gesetze schützen nicht vor Gift im Essen. Neue Wege beschreiten?

Das Problem

Nie war der Sünder so wertvoll wie heute. Denn der Irrsinn braucht einen Namen. Industriefett mit dem Ultragift Dioxin landet in den Mägen von Masttieren und womöglich auch auf den Tellern von Menschen. Ein mittelständischer Fetthersteller aus Uetersen in Schleswig-Holstein legt die deutsche Agrarwirtschaft teilweise lahm. "Kriminelle Energie" und "Scharlatanerie", so das empörte Echo aus allen Richtungen, lassen sich festmachen: Siegfried Sievert heißt der Mann, er ist 58 Jahre alt, Geschäftsführer der Firma Harles und Jentzsch und wurde dieser Tage nach eigenen Angaben per Fax und Telefon vielfach als "Mörder" beschimpft.

Einen stattlichen Schaden hat das Unternehmen verursacht, das Industrie- wie auch Nahrungsmittelfett herstellt, eine ansehnliche Hebelwirkung hat die Panscherei in Uetersen entfaltet: Bis zu 150 000 Tonnen Mischfutter für die Viehmast könnten mit dem dioxinbelasteten Fett von Harles und Jentzsch verseucht sein. Rund 4700 Bauernhöfe mit Geflügel- und Schweinezucht wurden bundesweit gesperrt. Eine gigantische Kontrollwelle rollt an, um herauszufinden, ob Fleisch oder Eier kontaminiert sind. Die deutschen Verbraucher wähnen wieder einmal Todesgefahr auf dem Teller, und die betroffenen Landwirte fürchten einen herben wirtschaftlichen Schaden.

Es ist nicht der erste Lebensmittelskandal in Deutschland und den Nachbarländern und wahrscheinlich nicht der letzte, gewiss aber einer der größten der vergangenen Jahre. All das hat man schon erlebt: "Tiermehl" aus Kadavern von BSE-befallenen Tieren in der Viehmast, Nikotin als Beruhigungsdroge in der Massenhaltung von Hühnern, Frostschutzlösungen als Süßungsmittel im Weißwein, bakterienverseuchtes Eigelb in Nudelprodukten, Würmer in Fischprodukten, Gammelfleisch auf dem Dönerspieß - so ekelhaft die Verbrechen bei Produktion und Vertrieb von Lebensmitteln wirken, so schnell setzt meist der Reflex ein: Die Täter sind Einzelne oder wenige. Sicher: Letztlich stehen meist wenige am Pranger. Doch der Wahnsinn hat System.

Die Erzeuger

Die prallvollen Regale in den Supermärkten zeigen eine heile Welt. "Öko" und "Bio" mehr denn je, glückliche Kühe auf sattgrünen Weiden, fröhliche Hühner mit stolzem Hahn. Auf heimischer Scholle wogt der Weizen sanft im Wind. Die Etiketten und Verpackungen bieten unsere Lebensmittel so feil, wie es sich gehört: als die guten Gaben ehrbarer Landwirte. Landliebe und Bauernglück, wohin man schaut.

Mit der Wirklichkeit hat das nur bedingt zu tun. "Es gibt zwei parallele Trends", sagt Reinhild Benning, gelernte Landwirtin und Agrarmarktexpertin bei der Umweltschutzorganisation BUND. "Der Anteil der ökologischen Landwirtschaft nimmt zwar zu. Aber in der übrigen Landwirtschaft steigt der Einfluss der Futtermittelindustrie immer weiter. Je weniger Futter ein Landwirt selbst produziert, desto größer wird der Einfluss der Mischfutterindustrie und desto unübersichtlicher und unsicherer die Handelswege."

Die Verbraucherorganisation Foodwatch untersucht die Herkunft und Zusammensetzung von Lebensmitteln - und die Vorstufe, die Herstellung von Futtermitteln für die Agrarwirtschaft. Bereits in einem ausführlichen Futtermittel-Report aus dem Jahr 2005 beschreibt die Organisation den Fall eines hessischen Herstellers für Futteröle. Dieser war aus den Niederlanden mit dioxinverseuchten Pflanzenölen beliefert worden. Eher zufällig sei das Unternehmen im Jahr 2004 aufgeflogen, bevor sein kontaminiertes Futteröl in den Handel kam, heißt es in dem Bericht.

"Die Aussagen des Reports sind heute so aktuell wie damals", sagt Christiane Groß von Foodwatch. Die Organisation, gegründet vom früheren Greenpeace-Chef Thilo Bode, streitet seit gut zehn Jahren für mehr Transparenz, aber auch für strengere Kontrollen und Haftungsregeln in allen Stufen der Lebensmittel- und Agrarindustrie. "Bei den Rechten der Verbraucher", sagt Bode, "geht es letztlich um die Frage, wie gut die Demokratie funktioniert."

Mit den Rechten der Verbraucher aber steht es möglicherweise nicht zum Besten. Ratlos lesen die Kunden im Supermarkt winzige Aufdrucke auf Lebensmittelpackungen, sinnentleerte Angaben über Aromen, Geschmacksverstärker und allerlei andere kryptische Zutaten in Tütensuppe, Fruchtsaft oder Puddingkaltschale. Das Problem beginnt allerdings nicht erst in den Zauberstuben der Lebensmittelkonzerne, sondern weit davor auf dem Bauernhof - oder dem, was man früher einmal Bauernhof nannte.

Immer mehr verdichtet sich die Agrarproduktion auf Unternehmen, die Futtermittel und andere Vorprodukte für die Landwirtschaft herstellen, die Tiere mästen und schlachten. "Die Industrialisierung der Agrarwirtschaft hat gewaltig zugenommen", sagt Eckehard Niemann von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Rund 1500 deutsche Landwirte sind dort zusammengeschlossen, konventionell arbeitende Betriebe wie auch Bauernhöfe, die Pflanzen und Tiere nach den strengeren ökologischen Standards züchten, verarbeiten und produzieren.

Im Mittelpunkt stehe für die Mitglieder ein hoher Anteil an Selbstkontrolle und Eigenverantwortung, sagt Niemann: "Wir kämpfen gegen Agrarfabriken für eine bäuerliche Landwirtschaft. Unsere Nahrungsmittelindustrie produziert systematisch Überschüsse für den Weltmarkt. Wir brauchen eine völlig neue Agrarpolitik."

Der Staat

Die Ministerin für Landwirtschaft war sofort zur Stelle, als der Fall des dioxinverseuchten Fettes ruchbar wurde. Denn ganz offiziell ist sie auch verantwortlich für den Schutz der Verbraucher. "Wir nehmen diesen Fall sehr ernst", teilte Ilse Aigner (CSU) in Berlin mit. "Die Verbraucher, aber auch die betroffenen Landwirte brauchen schnell Klarheit. Der vorsorgende Gesundheitsschutz hat für uns absoluten Vorrang." Die Entschlossenheit der Ministerin täuscht allerdings darüber hinweg, dass der Skandal Ende Dezember nur deshalb ruchbar wurde, weil der Verursacher Harles und Jentzsch eine Selbstanzeige erstattet hatte. Im wilden Stimmengewirr der vergangenen Tage wurde schnell die Ohnmacht des Staates deutlich. "Für uns als Ernährungsindustrie ist entscheidend, dass auf allen Vorstufen unserer Produktionen sauber gearbeitet wird", sagte Professor Matthias Horst, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, dem Abendblatt. "Die Bundesländer müssen prüfen, ob sie angesichts der heutigen Warenströme ausreichend streng kontrollieren. Sind die Abläufe sicher genug?"

Das erscheint höchst zweifelhaft, denn der Staat gerät als Aufseher gegenüber einer immer komplexeren Agrarindustrie ins Hintertreffen. "Uns fehlen bis zu 1500 Kontrolleure, um spürbaren Überwachungsdruck auf die Branche ausüben zu können", sagt Martin Müller, Vorsitzender des Bundesverbandes der Lebensmittelkontrolleure (BVLK). "Einheitliche Mindeststandards für Kontrollen in allen Bundesländern sind in der Praxis ein frommer Wunsch." Mangelnde Ausstattung und föderale "Kleinstaaterei" schwächten die Schlagkraft der Kontrolleure.

Diese Lücken wiederum nutzt der Schinkenhersteller Jürgen Abraham, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie, um den Ball von den Unternehmen weg an den Staat zurückzuspielen: Ordnungsämter und Veterinärbehörden hätten "ihre Aufsichtspflicht verletzt", die Ernährungsindustrie in Deutschland müsse eine "weitere Rufschädigung" fürchten. Doch wer ist dafür am Ende verantwortlich, außer einigen fahrlässigen Fettmixern in Uetersen?

Der Verbraucher

"Öko" und "Bio" liegen in Deutschland voll im Trend, fast jede Umfrage zu Lebensmitteln und Konsumverhalten belegt das. Verschiedene Qualitätssiegel des Bundes und der Agrarverbände bestimmen die Regeln für Landwirte und Lebensmittelwirtschaft. Ökologische Landwirtschaft basiert, vereinfacht gesagt, darauf, dass für den Anbau von Pflanzen und für die Aufzucht von Tieren nur natürliche Zutaten verwendet werden - im Idealfall Futtermittel und Dünger, die auf einem Hof selbst erwirtschaftet werden. Die Aufzucht der Tiere soll möglichst "artgerecht" erfolgen, mit wenig Quälerei fürs liebe Vieh. Das extreme Gegenteil ist die intensive Landwirtschaft: Sie setzt Kunstdünger und Pflanzenschutzmittel aus chemischer Produktion ein, sie jagt dem Zuchtvieh Wachstumsverstärker in die Körper und pfercht die Tiere zusammen, so weit die Gesetze tragen - und nicht selten darüber hinaus.

Der Handel hat den Charme der ökologisch hochwertigen Lebensmittel längst erkannt. In fast jedem Supermarkt steht heutzutage mehr oder weniger viel Bio. Der Anteil des ökologischen Landbaus in Deutschland steigt seit Jahren: Rund 21 000 Bauernhöfe produzierten im Jahr 2009 laut Statistik des Bundeslandwirtschaftsministeriums nach ökologischen Standards, das waren 5,7 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe. Etwa den gleichen Anteil hat die ökologisch bewirtschaftete Agrarfläche in Deutschland.

Den Trend scheint eine Untersuchung der Universität Kassel zu belegen: "Den typischen Bio-Käufer gibt es nicht", heißt es dort. Nahezu alle Haushalte kauften mittlerweile einen Teil ihrer Lebensmittel in Bio-Qualität, unabhängig von Bildung und Einkommen. Ein gutes Signal: Öko-Lebensmittel haben das Milieu der wohlhabenden Hedonisten verlassen und die Mitte der Gesellschaft erreicht. Doch es gibt auch eine andere Zahl: Nur noch 11,2 Prozent ihres Einkommens gaben die Deutschen im Jahr 2009 durchschnittlich für ihre Nahrungsmittel aus. Seit Jahren sinkt dieser Wert auf immer neue Tiefststände. Der Anteil geht zurück, weil die Einkommen stärker steigen als die Preise für Lebensmittel. Aber auch deshalb, weil vielen Deutschen schlicht und einfach wurst ist, was sie essen.

Die Auswege

Als eine Keimzelle der Europäischen Union gilt die gemeinsame Agrarpolitik. Ihr Ziel war es, den Menschen in Europa nach den Verheerungen der Weltkriege eine sichere und bezahlbare Versorgung mit Lebensmitteln zu gewähren und den Bauern stabile Einkommen zu verschaffen. Günstige Lebensmittel hatten die meisten Deutschen seit den 1960er-Jahren im Überfluss.

Zu den immensen Subventionen für die Landwirtschaft kam speziell in Deutschland der Druck der Handelsketten hinzu. In keinem europäischen Land übte der Einzelhandel auf die Lebensmittelindustrie einen so brutalen Preisdruck aus wie hierzulande.

Längst will die Europäische Union weg von Milchseen, Butter- und Fleischbergen. Saubere Lebensmittel und eine ökologisch weniger schädliche Landwirtschaft sind seit Jahren das neue Leitbild, das die EU auch finanziell fördern will. Doch ohne Druck der Verbraucher wird sich der Trend zur industriellen Lebensmittelwirtschaft nicht drehen lassen, glaubt Reinhild Benning vom BUND: "Wir müssen unsere Ernährungsgewohnheiten infrage stellen, insbesondere den hohen Fleischkonsum. Und die Verbraucher müssen der Landwirtschaft die richtigen Signale geben: also zum Beispiel Lebensmittel aus der eigenen Region kaufen."

Die Wiedervereinigung der Landwirtschaft mit ihren Kunden, die Nähe von Erzeugung und Konsum, das ist das Ideal vieler Verbraucher- und Umweltschützer. Idealist ist auch Foodwatch-Chef Bode. Die Grundlage allen Wandels ist für ihn mehr Transparenz darüber, wie Lebensmittel erzeugt werden und was sie enthalten: "Das Gute kann sich nicht durchsetzen", sagt Bode, "solange in der Lebensmittelindustrie so gnadenlos legal gelogen werden darf."