6000 Menschen in Hamburg leben mit Aids. Die allermeisten verschweigen ihre Krankheit. Marianne Koch ist eine von ihnen.

Hamburg. Marianne Koch ist eine Frau aus Hamburg. Sie könnte Ihre Nachbarin sein. Ein zierlicher Typ mit blonden, langen Haaren. Im Winter trägt sie einen dunkelgrünen Mantel mit einem Pelzrand an der Kapuze. Sie ist ein sportlicher Typ. Manchmal trifft man sie mit ihren zwei Söhnen im Supermarkt oder auf dem Spielplatz. Marianne Koch ist 44 Jahre alt und seit 15 Jahren verheiratet. Ihre Nachbarn mögen sie.

Ein paar Häuser weiter wohnt ein alter Mann. Er ist Mariannes Nachbar - also könnte er auch Ihr Nachbar sein. Er hat einen Hund und Zeit. Der alte Herr hat viele Freunde in der Straße. Und ein Geheimnis, das er immer gut gehütet hat. Bis er es schließlich jemandem erzählt haben muss. Jemandem, der es nicht weitersagen sollte und es dann doch jemandem weitergesagt hat, der es nicht weitersagen sollte. Und plötzlich wusste die ganze Straße, dass der Mann krank ist. Die Mütter nahmen ihre Kinder zur Seite. Sie sagten: "Fasst den alten Mann nicht an." Marianne Koch hat sich nur gewundert. Bis eine Freundin ihr zuzischte: "Halt dich bloß fern, der Alte ist aidsverseucht."

Marianne Koch hat kurz geschluckt. Dann hat sie ihre Freundin verabschiedet. Sie ist in ihre Wohnung gegangen und hat geweint. Dann hat sie die Tränen weggewischt und beschlossen zu schweigen. Sie hat sich die Haare gebürstet, ihren Mantel angezogen und ihren Jüngsten von der Schule abgeholt. Sie hat den anderen Müttern zugenickt, wie jeden Tag. Sie hat ein paar Worte gewechselt und sich gefühlt, als sei sie lebendig begraben.

Auch Marianne Koch ist positiv, ihre Nachbarin würde sagen "aidsverseucht". Sie trägt das HI-Virus in ihrem Körper, seit 13 Jahren. Sie hat gelernt, mit der Krankheit zu leben, es geht ihr körperlich gut. Mit dem Virus kommt sie zurecht, mit der Stigmatisierung nicht. Marianne Koch führt ein Leben im Schatten eines Tabus.

Wenn sie mit ihrem Arzt telefoniert, schließt sie die Fenster. Sie sorgt dafür, dass keiner sie beobachtet, wenn sie ihre Medikamente aus der Apotheke holt. Sie hält lieber den Mund, wenn die anderen über Aids sprechen. Nur mit ihrem Mann hat sie geredet. Bis die Belastung zu groß wurde und sie einen zweiten Menschen einweihen musste.

Sibyl Peemöller ist Sozialpädagogin bei der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Hamburg. 70 Familien mit 113 Kindern werden hier betreut. Familien, in denen entweder Mutter, Vater oder Kind mit dem Virus infiziert sind. Frau Peemöller hütet viele Geheimnisse. Zum Beispiel das einer 26 Jahre alten aidskranken Mutter von zwei Kindern, die über ihre Krankheit sagt: "Es ist ein Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann." Oder das eines 16-jährigen Mädchens, das das Virus seit der Geburt hat und das sagt: "Warum ich? Wo soll ich einen Mann finden, der mich mit HIV liebt?"

Sibyl Peemöller hört zu. Sie gibt Ratschläge. Und manchmal kann sie auch nur versuchen zu trösten. Sie sagt: "HIV ist immer noch ein Tabuthema. Infizierte bekommen kein Mitleid, sondern Missachtung." Viele Menschen hätten Angst vor Ansteckung. Dabei könne das Virus nicht einfach durch Händeschütteln übertragen werden. Jeder weiß, dass ungeschützter Sex die größte Ansteckungsgefahr birgt. Und dennoch infizieren sich die meisten noch immer beim Geschlechtsverkehr. 70 000 Menschen leben in Deutschland mit der Immunschwächekrankheit. Nach einer Schätzung des Robert-Koch-Instituts haben sich im Jahr 2010 etwa 3000 Menschen mit dem Virus angesteckt. 550 HIV-Patienten starben 2010 bundesweit an Aids. Mitte der Neunziger waren es noch 2500 Menschen pro Jahr. HIV ist also heute in Deutschland zu einer überwiegend chronischen Krankheit geworden. Sie ist jedoch nach wie vor nicht heilbar.

Marianne Koch glaubt, wenn sie sich outet, ist sie raus. Raus aus der Gemeinschaft in ihrer Straße, aus den netten Gesprächen auf dem Spielplatz, raus aus dem Freundeskreis. Niemand wird ihr mehr die Hand schütteln, ihr einen Kaffee anbieten, sie einfach nur mal freundschaftlich drücken.

Ihren Söhnen will sie die Ausgrenzung ersparen. Sie dürfen von der Krankheit nichts erfahren. Marc ist neun, Jasper zwölf Jahre alt. Sie sind beide gesund. Sie haben viele Freunde, ein unbeschwertes Leben. Sie haben eine Halbschwester, die gerade ihr zweites Kind bekommen hat. Sie glauben, dass alles ewig so weitergeht. Weil sie nicht wissen, dass ihre Eltern beide infiziert sind. Und dass sie irgendwann qualvoll an Aids sterben könnten.

Angesteckt hat sich Marianne Koch bei ihrem Mann. Da ist sie sich sicher. Er war infiziert, wusste aber nichts von seiner Krankheit. Dass sie das HI-Virus in sich trägt, erfuhr sie an einem Tag, der eigentlich einer der glücklichsten in ihrem Leben werden sollte. "Ich war schwanger und habe beim Frauenarzt einen Bluttest gemacht", sagt sie. "Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet." Der Arzt sagt: "Sie haben Aids." Er rät ihr, das Baby abzutreiben. Die junge Frau bricht zusammen. "Ich habe es einfach nicht geglaubt", sagt sie. Sie macht einen weiteren Test, gemeinsam mit ihrem Mann. Beide sind positiv.

Marianne Koch hat niemandem von ihrer Infektion erzählt. Sie weiß manchmal nicht, was größer ist: die Angst vor der Krankheit oder die Angst, dass andere davon erfahren, die es nicht einmal ahnen. Weil sie glauben, die Frau, die nebenan wohnt, genau zu kennen. Sie wissen nicht, dass ihre Söhne per Kaiserschnitt geholt werden mussten, dass ihre Mutter vor der Geburt Medikamente einnehmen musste, damit die Babys gesund auf die Welt kommen. Und dass sie heimlich mit den Jungs einen HIV-Antikörper-Test gemacht hat, als sie fünf Jahre alt waren.

Niemand von ihren Freunden weiß, dass oben im Küchenschrank Medikamente im Wert von 4500 Euro für drei Monate eingelagert sind. Die Kinder fragen nicht nach, warum ihre Eltern Tabletten schlucken. Als es dem Papa schlechter geht, sagt Marianne Koch zu ihnen: "Euer Vater hat Magenkrebs." Sie wird immer neue Lügen erfinden müssen, so lange, bis Marc und Jasper groß sind. Sibyl Peemöller hat ihr geraten, die Kinder in kleinen Schritten an die Wahrheit heranzuführen: "Das ist ein langer Weg. Eltern sollten von einer Blutkrankheit sprechen, um den Kindern eine mögliche Ächtung im Freundeskreis zu ersparen."

Eine Ächtung, die der alte Mann aus ihrer Straße erfahren musste.

Marianne Koch schweigt. Obwohl sie es manchmal nur herausschreien will, dass sie HIV-positiv ist. Dass sie das tödliche Virus in sich hat. Und dass sie eigentlich gar nicht Marianne Koch heißt. Sondern einen anderen Namen trägt, der hier nicht stehen darf.