Vielleicht sind die Terroristen schon auf dem Weg zu uns. Jüngste Warnungen verunsichern - doch wirklich Angst haben wir nicht - oder?

Wer Angst hat, dem bricht der Schweiß aus. Oder die Glieder beginnen zu schlottern. Der Atem stockt. Oder man hyperventiliert. Angst kann völlig entgegengesetzte körperliche Reaktionen auslösen. Und doch erkennen wir sie, spüren sie. Angst ist individuell.

Und immer konkret. Man ängstigt sich vor einem Hirntumor und vor der Kündigung, vor dem Verlust des Partners oder der erwarteten Tischrede, vor Spinnen oder davor, in ein Flugzeug zu steigen, wenn im Horrorfilm das Beil niedersaust und im Fall einer verschluckten Fischgräte. Wer gerade etwas über Killerbakterien gelesen hat, hat erhöhte Sorge, sich an jeder Türklinke zu infizieren. "Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Fantasie", hat Erich Kästner gesagt. Wie wahr!

Doch wer von uns verspürt derzeit wirklich Angst? Obwohl wir täglich davor gewarnt werden, Weihnachtsmärkte und Bahnhöfe aufzusuchen. Gestern wurden Kuppel und Dachterrasse des Berliner Reichstags gesperrt. Sie könnten zu Orten von Terroranschlägen werden. Nur noch angemeldete Besucher sind zugelassen. Ändert irgendjemand deshalb nun sein Verhalten? Verreist nicht, besucht keine Sehenswürdigkeiten und lässt Glühweinstände, den Besuch am Brandenburger Tor oder die Achterbahnfahrt auf dem Dom links liegen? Keineswegs.

Man soll Orte meiden mit "typisch westlichem Lebensstil", warnen deutsche Sicherheitsbehörden. Das gilt dann also für Cafés ebenso wie für Boutiquen, Schwimmbäder, Bratwurststände, Diskotheken oder Verlagshäuser. Dort wird beispielsweise Meinungsfreiheit und Geschlechtergleichheit praktiziert, man betreibt Sport, isst Schweinisches, hört Musik oder vergnügt sich - all das, was Islamisten ein Graus ist.

Die Zeit- und Ortsangaben über mögliche Anschläge sind völlig vage. Konkrete Vorsichtsmaßnahmen kann man also gar nicht treffen. Droht ein Schiff unterzugehen, zieht man sich warm an, legt die Schwimmweste an und trinkt noch etwas. Was aber soll man tun, wenn der Untergang des Abendlandes als Horrorszenario angekündigt wird? Alles bleibt, wie es ist. Niemand im Bekannten- oder Kollegenkreis verhält sich derzeit vorsichtiger oder ängstlicher als gewöhnlich. Bis auf eine Schwangere, die erklärt, sie würde möglicherweise in ein paar Tagen doch nicht mit dem Zug nach Berlin fahren. Für Schwangere gelten aber Ausnahmezustände. Wer einmal schwanger war und plötzlich darüber nachdenken musste, dass man im Gefahrenfall nun nicht mehr wegrennen könnte - und dabei dachte man ganz konkret an ein sich näherndes Auto -, weiß, was gemeint ist.

Angst beginnt im Kopf: Wir denken über die Wahrscheinlichkeit der Gefährdung, der Blamage oder des Unfalls nach. Und schätzen das Risiko ein, diese Gefahr zu überstehen. Je nach Risikohöhe wissen wir aus Erfahrung ziemlich genau, was uns blühen könnte, wenn wir im Tiefschnee abfahren, zu Geisterfahrern werden, auf einem Brückengeländer balancieren oder mit dem eben geschliffenen Küchenmesser Tomaten zerteilen. Und entscheiden dann, ob wir das Wagnis eingehen. Wir behalten die Kontrolle über die Situation. Im Falle eines Unglücks wissen wir: selber schuld. Ich hätte es lassen sollen.

Bei Terrorwarnungen läuft das völlig anders. Niemand weiß, ob, wann und wo ein Attentat stattfinden kann. Ob es eine Bombe sein wird, die hochgeht, oder ein Flugzeug, das runterfällt. Erfahrungen mit ähnlichen Ereignissen - also Wiedererkennen und Bewerten - hat man nicht. Wogegen sollte man sich wappnen? Worauf achten? Dass ein Mann eine Tasche im Schließfach deponiert? Oder mit einer Plastiktüte über den Dom läuft? Wo alles möglich ist, wird nichts real. Da lässt man's lieber mit der Angst. Viel zu diffus sind die Gefahren, viel zu beliebig die Szenarien, viel zu weit entfernt die Gegner. Eher hat man Angst, abends um zehn Uhr noch in den dunklen Keller zu gehen, als vor einem Selbstmordattentäter, den man im Zweifel nicht mal im Hellen erkennen würde. Und viel zu oft ist man in den vergangenen Jahren schon mit Katastrophenszenarien konfrontiert worden. Vogelgrippe, BSE, Klimakatastrophe oder Überbevölkerung, stets drohte ein Massensterben, das dann doch nicht eintrat. Haben wir Deutschen nicht vor 30 Jahren den Begriff vom Waldsterben erfunden? Der Wald steht heute gesünder da denn je. Wurden nicht kürzlich erst 50 Millionen Impfstoffe gegen die Schweinegrippe bestellt? Und kaum jemand wollte sich impfen lassen? Erkrankt sind wir trotzdem nicht. Die Angst vor Aids ist ebenso gesunken wie diejenige vor dem Konjunktureinbruch. Kann sein, dass es daran liegt, dass man Menschen kennt, die schon ziemlich lange mit Aids leben. Und dass es persönlich gar keinen Konjunktureinbruch gab. Der Gehaltszettel sieht immer noch gleich aus. Es könnte aber auch sein, dass man überfüttert ist von Katastrophenmeldungen, die man zwar täglich zu hören bekommt, aber weder spürt noch sieht: der Krieg in Afghanistan, ein Vulkanausbruch in Indonesien, Fluten in Pakistan, ein Hurrikan in der Karibik, Massenelend bei chinesischen Wanderarbeitern, Massenmorde in Darfur, Atomwaffen im Iran. Nichts darf man angeblich mehr essen, weil überall Emulgatoren lauern. Und trotzdem schmeckt es viel zu vielen viel zu gut. Und dann auch noch der Dauerkonflikt im Nahen Osten. Israel beispielsweise lebt mit der ständigen Furcht vor Anschlägen. Traumaforscher Martin Lüdge sagt: "Es gibt keine Gewöhnung an die Angst vor Terror, es gibt nicht so etwas wie ein dickes Fell."

Vielleicht ist das vorherrschende Gefühl unserer Zeit die Angst, Angst zu zeigen. Die Deutschen sind sorglos geworden, moderat, ausgeglichen. Möglicherweise sogar entspannt. Genauso reagieren sie jetzt auf Terrorwarnungen. Wo lange und zu viel Alarm gemacht worden ist, schalten die Gehirne auf ruhig bleiben. Unsere Erfahrung lehrt uns, dass die schlimmsten Szenarien doch nie eintreten. Dass man "denen da oben" sowieso nicht trauen kann, weil sie nie die ganze Wahrheit erzählen. Und dass Angst im Zweifelsfall sowieso nicht helfen würde, weil man nicht weiß, wovor man wegrennen sollte oder gar wohin.

Ängste stecken an. Angstlosigkeit offenbar auch. Kollektivängste, Massenängste haben zu allen Zeiten Kultur und Gesellschaft geprägt. Ahnenriten und Begräbniskulte sollen die Angst vor dem Tod mindern helfen und dienen dem Erhalt sozialer Ordnung. Jeder Mythos, jede Religion arbeitet mit Angsterzeugung und deren Vertreibung. Im Christentum symbolisiert der Himmel die Sphäre beseligender Angsterlösung, die Hölle alles, was für Angst steht. Beides gehört zusammen. In den alten Religionen tragen die Götter oft die Masken des Bösen: Sie wollen die Menschen töten. Diese uralte Angst vor den Göttern ragt noch in die Sintflut-Geschichte des Wettergottes Jahwe. Die Mächte, die die Welt beherrschen, müssen verfriedlicht werden. Religion ist die symbolische Form dieser Verfriedlichung. Sie drückt in den Bindungen, die sie zu den Göttern zumeist über Opfer-Rituale schafft, die Umkehrung der Angst aus. Aber Religion ist für die meisten Mitteleuropäer heute nicht mehr wichtig. Wir sind liberal, säkular, aufgeklärt.

Nur wer sich von den Quellen der Angst hinreichend distanzieren kann, wird nicht von dieser verschlungen werden. Distanzierung und Selbstdistanzierung sind in allen Angstbewältigungstechniken die entscheidende Leistung. Bedenkt man, dass Distanzierung und Isolation des Objekts die Grundgesten der Naturwissenschaften darstellen, so drängt sich der Gedanke auf, dass auch die Wissenschaften dem Auftrag folgen, Angst zu bewältigen und Sicherheit zu erzeugen. Wissenschaft als Erlösung von Angst.

Als moderne Menschen wollen wir an Fakten glauben und die Urangst, die von der Natur als Fluchtmöglichkeit vor dem Feind angelegt ist, verdrängen. "German Angst" ist ein Begriff, der in der ganzen Welt bekannt ist. Er bezeichnet uns Deutsche als Zögerer, Bedenkenträger und Weltmeister der Verzagtheit. Deutschsein heißt: Kaum entsteht irgendwo eine Frage, machen wir ein Problem daraus. Doch jetzt sind wir plötzlich ganz anders. Wir sind lässig und entspannt. Aber groß und stark wollen wir natürlich immer noch sein. Angst zu haben passt nicht dazu.