Die Chefin der Grünen will Berlin regieren. Doch die Umfragewerte ihrer Partei zeugen weniger von eigener Stärke als von Schwächen der anderen.

Hamburg/Berlin. Was an Renate Künast in diesen Tagen auffällt, ist ihre ungewöhnliche Schweigsamkeit. Üblicherweise nimmt die 54-Jährige kein Blatt vor den Mund und weiß sich zu verkaufen. Jetzt ist sie abgetaucht und lässt ausrichten, noch sei in Sachen Berlin nichts entschieden. Genießt sie schweigend? In ihrer Partei sind sich nämlich alle sicher: Renate Künast wird im Herbst 2011 in Berlin Klaus Wowereit (SPD) herausfordern und könnte die erste grüne Regierende Bürgermeisterin werden. Sie würde grüne Geschichte schreiben.

Nach jüngsten Umfragen hat die frühere Verbraucherministerin durchaus Chancen, ins Rote Rathaus der Hauptstadt einzuziehen. Schon im Sommer haben die Berliner Grünen die SPD überflügelt. Mit 27 Prozent sind sie demografisch die stärkste Partei in der Hauptstadt, während die Sozialdemokraten auf 26 Prozent kommen. Die CDU hat mit 17 Prozent gerade mal einen Prozentpunkt mehr als die Linke.

Auch im Bund erreichen die Grünen seit Monaten in Umfragen regelmäßig mehr als 20 Prozent - Werte, von denen sie noch nicht einmal 1998 geträumt haben, als sie erstmals im Bund mitregieren durften. Dazu genügten ihnen seinerzeit 6,7 Prozent. In Baden-Württemberg, wo sie derzeit sogar bei 32 Prozent - und damit nur knapp hinter der CDU (34) - liegen, könnte es mit Winfried Kretschmann, 62, bald den ersten grünen Landesvater geben.

Die Partei ist außerdem personell gewachsen. Es ist den Grünen gelungen, ihre Verluste am Ende der rot-grünen Koalition wieder wettzumachen: Damals sackte die Mitgliederzahl auf 43 000 ab, jetzt zählte der Bundesvorstand Ende September wieder mehr als 50 000 - ein Zuwachs seit 2009 um etwa elf Prozent. Mehr als zehn Prozent Zuwachs im Vorjahresvergleich gibt es auch in einigen Landesverbänden, darunter Hamburg und Sachsen.

Erleben die Grünen gerade einen zweiten Frühling?

Der Parteienforscher Wichard Woyke von der Universität Münster empfiehlt gesundes Augenmaß. "Die Grünen waren schon früher in vielen Länderparlamenten. Wenn sie jetzt mit wesentlich höheren Umfrageergebnissen firmieren, muss man bedenken: Das sind demoskopische Ergebnisse und noch keine Wahlergebnisse. Ob sich die Zahlen tatsächlich in Wählerstimmen umsetzen, muss sich erst erweisen."

Ganz ähnlich sieht es Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer, der seine Partei angesichts der euphorisierenden Umfrageergebnisse zur Bescheidenheit aufruft: Bisher seien ja nur "Ergebnisse in der Gegend von 30 Prozent" vorzuweisen, sagte er der "Leipziger Volkszeitung". Das tatsächlich in Wählerstimmen umzumünzen, müsse den Grünen erst noch gelingen. "Ich sehe in den Umfragewerten mindestens so viel Risiko wie Chancen. Wer da zu früh abhebt, landet ganz unsanft."

Und trotz allen Zuspruchs fällt den Grünen der Nachwuchs auch nicht in den Schoß. Vor allem nicht der, den sie am liebsten hätten: all die gut ausgebildeten jungen Akademiker, Softwarespezialisten, Media-Fachleute und Social Networker, die sich in großen Gruppen bewegen und im Internet vernetzen. Sie entwerfen kompostierbare T-Shirts, bieten Know-how für heimische Solaranlagen an, gestalten Internetauftritte für Nicht-Regierungs-Organisationen, gründen Biokantinen und Klimagruppen. Die Graswurzelrevolution ist längst online gegangen.

Für jede Partei wären das Traumwähler und -mitglieder. Aber die Ochsentour vom Ortsverband zur Parteispitze ist bei diesem engagierten Nachwuchs so beliebt wie Fußpilz.

Claudia Langer, Mitbegründerin der großen Internet-Plattform Utopia, glaubt zu wissen, warum. "Die Mehrheit ist natürlich Grünen-affin", sagt sie. "Aber für viele ist es nicht vorstellbar, in die Parteipolitik einzuscheren. Sie befürchten, dass sie mit ihren Ideen nicht durchdringen, dass sie faule Kompromisse schließen müssten, und viele sagen auch: Ich weiß nicht, ob ich unsachliche Angriffe aushalte."

Das Image der Parteien ist bei jungen Kreativen, Öko-Experten und Green-IT-Spezialisten schlecht. Für viele ist es schlicht ein Aufwandsvergleich: Die Zeit, die andere in Parteigliederungen verbringen müssen, bevor sie etwas gestalten können, kann man auch sinnvoll mit Networking verbringen. "Ich finde, viele Leute machen es sich noch zu bequem. Sie sagen: Die Politik muss sich ändern, klar, aber bitte ohne mich. Ich finde das hoch bedenklich, denn wir brauchen bessere Leute in der Politik." Es geht um eine große Klientel: Allein Utopia zählt schon 70 000 Mitglieder, 20 000 mehr als die Grünen.

Auf der diesjährigen Utopia-Konferenz am 28. und 29. Oktober in Berlin ist genau dieses Problem ein Thema auf der Veranstaltung "Wie bekommen wir die Besten in die Politik?" Und wer kommt? Renate Künast. Sie wird mit drei jungen Aktivisten von Attac, 350.com und abgeordnetenwatch.de diskutieren, die keinesfalls in eine Partei gehen wollen.

Die Grünen profitieren vor allem von den Fehlern der anderen

Politikwissenschaftler sind sich weitgehend einig, dass die Grünen auf ihrem derzeitigen Höhenflug vor allem "von der schlechten Performance der anderen Parteien" profitieren, wie Oskar Niedermayer von der FU Berlin sagt. Neue Grünen-Mitglieder kommen vor allem aus dem bürgerlichen Milieu, sagt Wichard Woyke. "Das sind enttäuschte CDU-Wähler, für die das konservative Profil der CDU nicht mehr deutlich erkennbar ist, vor allem nach dem Weggang von Ministerpräsidenten wie Koch in Hessen oder Oettinger in Baden-Württemberg. Das sind auch enttäuschte FDP-Wähler."

Vor einem Jahr, erinnert Woyke, errangen die Grünen bei der Bundestagswahl zehn Prozent der Stimmen, die FDP knapp 15 Prozent. Inhaltlich wie personell habe sich seither in beiden Parteien nichts geändert. Es kann also nicht allein am Spitzenpersonal liegen, dass die Grünen an Beliebtheit so viel gewonnen und die Liberalen so viel verloren haben. Zum einen, meint er, hänge es mit Fehlern der anderen Parteien zusammen: "Das sieht man bei Stuttgart 21. Da stehen als Einzige die Grünen, während die SPD vorn und hinten wankt." Auch der Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomkraft sei "ein wunderbares Zulaufsargument von enttäuschten Schwarz-Gelb-Anhängern hin zu den Grünen", sagt Woyke.

Zum Zweiten profitierten die Grünen immer dann, wenn es im bürgerlichen Lager insgesamt Verschiebungen gibt, wenn Lobbypolitik zu viele Verlierer produziert oder wenn Traditionsparteien an Bindekraft verlieren. In der Finanzkrise hatte die FDP noch Rückenwind: Wo der Staat kein Geld hat, soll er sich zurückziehen. Jetzt deutet sich ein Aufschwung an, der Staat nimmt mehr Steuern ein - und die Bürger wollen davon etwas sehen.

Das Alleinstellungsmerkmal der Grünen in der Parteienlandschaft ist immer noch, dass sie 1980 die ersten waren, die Umweltpolitik und kompromisslose Werbung für Umweltschutz in die Politik trugen, während SPD und CDU noch industrielle Großprojekte unterstützten und vor allem Arbeitsplätze sichern wollten. Während die anderen Parteien witzelten, bei den Grünen dürften nur Textmarker ohne Lösemittel benutzt werden, bauten die in ihren Markenkern auch das Eintreten für Menschenrechte, soziale Teilhabe, Chancengleichheit durch Bildung ein. Und sie stehen für eine gehörige Portion Erfahrung in Bürgerbewegungen.

Das kommt ihnen überall da zugute, wo sich Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld für mehr Lebensqualität einsetzen: für Tempo-30-Zonen, eine Reformschule oder ein Klimakonzept ihrer Kommune. Wie zum Beispiel in Bargteheide: Vor einem Jahr wurde der vorher überalterte Grünen-Ortsverband mit neuen Mitgliedern wieder belebt. Aus vormals acht Mitstreitern sind inzwischen 19 geworden. Gerade hat die Gruppe im Stadtrat einen Einwendeantrag für ein Klimakonzept durchbekommen.

Ein Sieg in Baden-Württemberg hätte die größere Strahlkraft

Die Neuzugänge sind Ingenieure, Ärztinnen, Unternehmensberater, Lehrer/innen und Industriedesigner, das typische Alter liegt zwischen 30 und 60. Ein paar Gymnasiasten gesellen sich immer dazu. Aber wie in den meisten Kleinstädten wandern die Jüngsten zum Studium in die Metropolen ab. Und ob sie dort in die Parteistrukturen der Grünen einscheren, ist ebenso ungewiss wie bei den anderen Parteien.

Zwar können die Grünen im kommenden Jahr bei Wahlen in Rheinland-Pfalz, in Baden-Württemberg, Bremen und Berlin mit sehr guten Ergebnissen rechnen. Aber sie müssen ihr Spitzenpersonal verjüngen. Und selbst wenn sie in Berlin und Stuttgart demnächst die Ministerpräsidenten stellen sollten, müssten sie tragfähige Koalitionen bilden.

Bis zu den Wahlen im nächsten Frühjahr und Herbst kann noch viel passieren. Der Politikwissenschaftler Niedermayer glaubt sogar, "dass es bundesweit wieder unter 20 Prozent geht." Auch der Zuspruch für die Berliner Grünen könne vor der Wahl im September 2011 wieder abflauen. Größere Strahlkraft hätte nach seiner Ansicht ein Grünen-Sieg bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg im März: "Das würde die Grünen beflügeln. Und es würde die Diskussion in der SPD ändern." Eine grün-rote Koalition in Stuttgart könne der Berliner SPD den Weg in eine Koalition erleichtern, deren Chefin Renate Künast heißt.