Der Umbruch in der Parteiendemokratie stellt den Pragmatismus der Öko-Partei auf eine harte Bewährungsprobe. Neue Mitglieder können viel Ärger bringen

Alle Meinungsumfragen weisen in die gleiche Richtung: Die Grünen legen von Mal zu Mal zu. In Baden-Württemberg liegen sie für die Landtagswahl im März des nächsten Jahres deutlich vor der SPD. Für den Bund sind sie dabei, zur SPD aufzuschließen. Natürlich sind Meinungsumfragen nicht mit künftigen Wahlergebnissen gleichzusetzen. Um so mehr, als in ihnen heute auch ein deutlicher Protest gegenüber den "Altparteien" SPD, CDU und FDP sichtbar wird. Manche Wähler werden zu Hause bleiben. Und dennoch hat die politische Klasse Angst. Auch den Grünen ist nicht ganz wohl bei ihrem Höhenflug.

In Hamburg konnten sie sich als Junior-Partner mit der CDU einlassen und ihren Widerstand gegen die Elbvertiefung und das neue Kohlekraftwerk gegen ihre weitreichenden Pläne für eine Schulreform eintauschen. Dafür traten schließlich in der Bürgerschaft alle Parteien ein - CDU, SPD, GAL und Linke. Und dennoch "versank" die Primarschule in der von den Grünen durchgesetzten Volksgesetzgebung.

Die "grüne Welle" trifft vor allem die SPD. Sie verliert ihr politisches Profil durch opportunistisches Anpassen bei der Rente mit 67, der Erhöhung der Hartz-IV-Sätze, der Atomenergie, dem Baustopp für Stuttgart 21 ... Holger Börner, unser Bundesgeschäftsführer in den guten, alten Zeiten, quittierte solches Tun mit der Feststellung, die SPD verspreche "Gänsebraten auf Krankenschein". Das überzeugt nicht. Da ist Grün viel attraktiver. Und mir schmeckt sowieso kein Gänsebraten.

Die Berliner Koalition schafft es nicht, diesem Land eine solide Regierung zu geben. Wenn die Landtagswahlen im nächsten Jahr schiefgehen, kommt es nicht zu vorgezogenen Bundestagswahlen. Warum sollen mehr als 300 Abgeordnete der Koalition ihre politische Existenz und ihre gesicherten Finanzen durch eine vorzeitige Auflösung des Bundestags aufs Spiel setzen? Außerdem müsste unser Grundgesetz über die Grenze des Zuverlässigen hinaus juristisch malträtiert werden, um zu Neuwahlen zu kommen. Der CDU stehen zwei gute Politiker zur Verfügung, die das Kanzleramt ausfüllen könnten. Ursula von der Leyen und Karl-Theodor zu Guttenberg. Es kann also weiterregiert werden, auch wenn die FDP nicht aus ihrem Meinungstief herauskommen wird. Die Grünen haben sie längst beerbt. Die theoretisch mögliche Alternative, eine Große Koalition, ist faktisch ausgeschlossen.

Auch bei den Grünen gibt es sicherlich besorgte Überlegungen zu ihrem Höhenflug. Da haben sie sich über Jahrzehnte politisch gemausert und sind ziemlich seriös geworden. Sie haben sich in der rot-grünen Koalition mit Gerhard Schröder und Joschka Fischer staatstragend und leistungsstark präsentiert. Auch in einigen Bundesländern haben sie überzeugt. Und nun kommen viele Neue über die grüne Mandatsschwemme dazu, die viel mehr Ärger als Nutzen bringen können, weil sie manche grüne Forderungen immer noch ernst nehmen, die in der Realität längst obsolet geworden sind. Da wird der grüne Pragmatismus vor harte Bewährungsproben gestellt werden.

Was macht ein grüner Ministerpräsident mit seinem Juniorpartner SPD in Baden-Württemberg im nächsten Frühjahr mit Stuttgart 21? Folgt er den Forderungen der Protestler und den Versprechungen von Grün und SPD, ruiniert er nicht nur seinen Ruf, sondern auch seinen Landeshaushalt durch hohe Schadensersatzzahlungn. Er kann aber auch seine Wähler enttäuschen, indem er zur Realität zurückkehrt und Stuttgart 21 fortsetzt. Auf ihn wartet also eine Nagelprobe mit weitreichenden Konsequenzen. Auch deshalb kann es nach den Wahlen zu anderen Konstellationen kommen.

Wieder einmal steht unsere Parteiendemokratie vor einem Umbruch. Schwer zu sagen, was dabei herauskommt. Nur eins ist sicher: Opportunismus wird sich nicht auszahlen, weil die Wähler viel intelligenter sind als die Politiker denken. Deshalb spricht nichts dagegen, wenn Renate Künast im nächsten Jahr in Berlin Regierende Bürgermeisterin werden sollte.