Brennende Autos und Schulen, erneutes Chaos bei Demos. Die Rentenreform ist nur ein Ventil für die wachsende Wut auf Sarkozy.

Marseille. Ein Mädchen drückt fest die Hand seiner Freundin. Beide weinen. Neben ihnen sitzt ein älterer Junge, vielleicht 17 Jahre alt. Er ist aufgebracht. "Wo sollen wir denn jetzt zur Schule gehen?", ruft er im gut gefüllten Gemeindesaal. 250 Jugendliche, teilweise begleitet von ihren Eltern, haben sich hier an diesem Dienstagmittag versammelt. Sie haben viele Fragen - und sie wollen Antworten von Jean-Claude Boulard, dem Bürgermeister von Le Mans. Es geht ihnen nicht um die geplante Rentenreform, um Gewerkschaftsstreiks oder den Präsidenten. Es geht ihnen um ihre Schule Val d'Huisne, die seit den frühen Morgenstunden nur noch eine Ruine ist.

Gegen Mitternacht ging sie in Flammen auf, der Brand konnte erst nach Stunden gelöscht werden. Der französische Erziehungsminister Luc Chatel ist in die Stadt im Nordwesten des Landes gekommen. Er spricht von einem "ungeheuer kriminellen Akt". Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass der Brand im Zusammenhang mit der Gewaltwelle steht, die große Teile Frankreichs erfasst hat. Brandsätze wurden im Gebäude gefunden, die Eingangstüren waren mit Müll und Einkaufswagen blockiert.

Und während sie in Le Mans die Trümmer der Schule besichtigen, brennen in Lyon Autos und Barrikaden, setzt die Polizei in Nanterre Tränengas gegen Randalierer ein und blockieren Demonstranten den Platz der Republik in Paris. Schon sprechen die ersten Regionalpolitiker von einer "Stadt-Guerilla", und Didier Lapeyronnie, Soziologe an der renommierten Universität Sorbonne , warnt vor Verhältnissen wie bei den Jugendprotesten im Mai 1968.

Die angekündigte Heraufsetzung des Renten-Mindestalters von 60 auf 62 Jahre, die am Donnerstag endgültig beschlossen werden soll, ist dabei vielen nur Anlass für den Protest. Die Ursache liegt weit tiefer. Es hat sich etwas angestaut, das sich offenbar jetzt Bahn bricht, als spuckten die Gallier Gift und Galle vor Wut. Und ihr Ziel hat einen Namen: Nicolas Sarkozy . "Es reicht, Kleiner!", steht auf einem Transparent in Marseille. Die drei Worte bringen auf den Punkt, was an diesem Dienstag wieder Hunderttausende - die Gewerkschaften sprechen von bis zu 3,5 Millionen - auf die Straßen treibt.

In den Straßen von Marseille türmen sich Tausende Tonnen Müll

Die Kais von Marseille sind schon am frühen Vormittag schwarz vor Menschen. Über der Masse wehen die roten Fahnen der größten Gewerkschaft CGT. "Alle zusammen, alle zusammen für die Revolution", skandiert eine Gruppe. "Milliarden für die Reichen - und für uns?", ist auf einem Plakat zu lesen. Die Demonstranten sind entschlossen, den Machtkampf mit der Regierung fortzusetzen. Fatiha Daho von der Frauenrechtsvereinigung Schebba sagt: "Die Proteste richten sich nicht nur gegen die Rentenreform, sondern ganz allgemein gegen Sarkozy und sein System. Wir haben die Nase davon voll." Derweil türmen sich in den Straßen der Hafenstadt Tausende Tonnen Abfall, weil die Müllfahrer streiken.

Nicht nur die Gewaltausbrüche, vielmehr noch die Ausstände von Beschäftigten treffen Frankreich von Tag zu Tag empfindlicher. Flughafen-Mitarbeiter , Zugführer, Lehrer und Postboten schließen sich den seit Tagen protestierenden Raffinerie-Arbeitern und Schülern an. Etwa die Hälfte aller Züge fällt aus und 30 bis 50 Prozent der Flüge sind am Dienstag gestrichen. Die prekäre Lage an Tausenden Tankstellen setzt sich fort, vielen Autofahrern geht das Benzin aus. Allein der Ölkonzern Total registriert Engpässe an etwa einem Viertel seiner 4000 Servicestationen in Frankreich - eine direkte Folge der wochenlangen Streiks an den Raffinerien, Treibstoff-Depots und eines von der Rentenreform unabhängigen Ausstands von Hafenarbeitern. Jetzt will Frankreich sogar schon auf seine strategischen Treibstoffreserven zurückgreifen. "Ich habe am Freitag aufgetankt, das reicht für eine Woche. Aber der Tank meines Kollegen ist leer. Er kann nicht arbeiten", sagt der Lastwagenfahrer Marques Vasco, der eine Ladung Bier an ein Pariser Café liefert. An einigen Bargeld-Automaten wird es ebenfalls eng, da sich auch Fahrer von Geldtransportern an den Arbeitsniederlegungen beteiligten.

1995 zwang schon einmal ein Streik die Regierung in die Knie

Ein junger Mann namens Daniel steht an der Pariser Garnier-Oper und verkauft Zeitungen. "Die Einzigen, die es wegen des Streiks heute überhaupt noch gibt", betont er. Es ist ein dünnes Gratisblatt, das er im Gegenzug für eine kleine Spende verteilt. Seinen vollen Namen will er nicht nennen - die Angst vor den radikaler werdenden Protesten sitzt ihm im Nacken: "Ich will nicht, dass mich morgen jemand als Streikbrecher attackiert."

Nur wenige Kilometer weiter, vor dem Gymnasium Joliot-Curie in Nanterre, bricht sich derweil jugendliche Gewalt erneut in Krawallen mit der Bereitschaftspolizei Bahn. "Wir sitzen alle im gleichen Boot und kämpfen gegen soziale Ungerechtigkeit", begründet eine Jugendliche vor dem Reporter-Mikrofon ihren Einsatz.

Die Hartnäckigkeit der Reformproteste provoziert bereits erste Vergleiche mit dem Generalstreik von 1995, der die Regierung von Ministerpräsident Alain Juppé in die Knie zwang. Auch damals ging es um eine Rentenreform, auch damals spielten Lkw-Blockaden eine Schlüsselrolle. Sie lassen heute wie damals den Benzin-Nachschub versiegen.

Während die Gewerkschaften zu Gewaltfreiheit aufrufen, kündigt Justizministerin Michèle Alliot-Marie ein hartes Vorgehen gegen Vandalen an. "Das Recht zu demonstrieren bedeutet nicht, dass es ein Recht gibt, Dinge kaputt zu schlagen", sagte sie dem Radiosender Europe 1. Und das sei eben das Problem: "Sobald es eine Serie von Demonstrationen gibt, sobald es dort Jugendliche gibt, mischen sich kleinere Gruppen darunter, die aus nichts weiter als Randalierern bestehen", sagte Alliot-Marie.

Merkel stellt sich bei Rentenreform an Präsident Sarkozys Seite

Doch auch sie vermutet, dass 18 Monate vor der nächsten Präsidentenwahl Staatschef Nicolas Sarkozy und weniger sein Reformwerk das Ziel der Proteste sein könnte. Sarkozy selber ruft an diesem Tag zum wiederholten Male zur Besonnenheit auf. "Ich appelliere an das Verantwortungsgefühl aller Beteiligten, um sicherzustellen, dass bestimmte Grenzen nicht gebrochen werden", sagt er im nordfranzösischen Badeort Deauville, wo er mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Russlands Präsidenten Dmitri Medwedew zusammenkommt.

Sarkozy bekräftigt ein weiteres Mal, an seinem Rentenreform-Gesetz festzuhalten. "Die Reform ist wichtig und Frankreich steht zu ihr und wird sie auf den Weg bringen, genauso wie unsere deutschen Partner das getan haben", sagte er. Die Kanzlerin springt ihm bei. "Ich glaube, die Bevölkerung in Deutschland, genauso wie in Frankreich, wird nicht darum herumkommen, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Und die Wahrheit heißt: Die Menschen leben länger." Und dann müsse auch die Lebensarbeitszeit länger werden.

Merkel erinnert daran, dass es auch in Deutschland gegen die Erhöhung des Rentenalters von 65 auf 67 Jahre viele Proteste und Widerstände gegeben habe, und viele Menschen verstünden das auch heute noch nicht.