Mitten durch Hamburg, auf einer der international schönsten Strecken, starten an diesem Sonntag 13 000 Läufer. Eine Herausforderung für sie alle. Warum tun sich Sportler das an? Die extreme Belastung bedeutet für den Körper Stress pur. Aber nicht nur. Der Wille, ins Ziel zu kommen, gilt als gesunde Lebenseinstellung

Der Radprofi Jan Ullrich hatte die mächtigsten Hindernisse bereits hinter sich gelassen, ein schweres Zeitfahren, die Alpen, die Pyrenäen. In der im Vergleich zu diesen Rampen eher hügeligen Landschaft der Vogesen begann der damals 23-Jährige zu schwächeln - und das kurz vor Erreichen des großen Ziels in Paris. Sein Mannschaftskamerad Udo Bölts trieb ihn immer wieder an, gab ihm Wasser wie Windschatten, holte ihm Energieriegel, und als das alles nicht half, schrie er den Mann im Gelben Trikot von der Seite an: "Quäl dich, du Sau!" Der Satz, der vor 15 Jahren fiel, wurde legendär wie der Empfänger. Ullrich gewann drei Tage später die Tour.

An diesem Sonntag starten in Hamburg rund 13 000 Läufer zum Haspa Marathon. Das sind exakt 42,195 Kilometer entlang von Elbe und Alster. Der erste Marathonläufer, jener Bote, der sich der Legende nach im Jahre 490 v. Chr. nach dem Sieg der Athener in der Schlacht von Marathon auf den knapp 40 Kilometer langen Weg nach Athen gemacht hat, um dort die freudige Botschaft zu verkünden, soll nach seiner Ankunft vor Erschöpfung tot zusammengebrochen sein.

Bis heute ist der Marathonlauf eine Herausforderung für jeden Sportler geblieben, an seine Leistungsgrenzen zu gehen - und auf den letzten Kilometern manchmal darüber hinaus. Ein Marathonlauf schwächt wie jede Anstrengung im Hochleistungsbereich das Immunsystem. In der ersten Woche nach dem Lauf bleibt der Körper anfälliger für Infekte. Mehr noch: Durch die extreme Belastung sterben Herzmuskelzellen ab. Auch für Knochenbau und Gewebe bedeutet ein Marathon Stress pur. Er kann zu Frakturen und Knochenmarksödemen im Bein- und Fußbereich führen, insbesondere dann, wenn bereits Vorschädigungen vorliegen.

Und nur die wenigsten Ausdauersportler kommen in den Genuss des Runner's High: jenes rauschhaften Hochgefühls, bei dem körpereigene Endorphine den Schmerz überdecken und durch Euphorie ablösen. Und doch nehmen jedes Jahr mehr als 100 000 Läufer allein in Deutschland einen Marathon auf sich.

Die Strapazen werden am Sonntagmittag wieder in den Gesichtern abzulesen sein, wenn die Läufer nach drei, vier oder fünf Stunden auf die lange Zielgerade in die Glacischaussee am Heiligengeistfeld einbiegen. Und mancher wird dann im Nachhinein zugeben: "Am Ende war das nur noch Quälerei."

Aber: Was ist denn eigentlich Qual? Der Triumph über den inneren Schweinehund, eine Leistung unbeugsamen Willens also? Oder doch eher Masochismus, also eine Art selbstschädigendes Verhalten? Vielleicht ist es aber auch nur Neugier, der Spaß an der Weiterentwicklung eigener Ressourcen, eine Erfahrung im Grenzbereich der Möglichkeiten?

Der Saarbrücker Sportsoziologe Eike Emrich hat den Marathon einmal als "pseudosakralen Passionsweg" beschrieben: "Die Läufer beschreiten freiwillig einen Weg der schmerzensreich ist. Am Ende winken Glück und Erlösung. Da wird ein religiöses Muster nachgespielt, in dem sich alle Werte der Leistungsgesellschaft verdichten: Durchhaltevermögen, Leistungsorientierung, Zähigkeit, Askese."

In dem Leistungsaspekt weist der Marathon über andere Großveranstaltungen hinaus, die seit den 90er-Jahren regen Zulauf erleben. Gabriele Klein, Soziologie-Professorin am Fachbereich Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, spricht von einer "Eventisierung der Gesellschaft", ob beim Popkonzert, beim Public Viewing oder beim Marathon: "Man möchte in einer Gemeinschaft in seiner Individualität wahrgenommen, aber dennoch aufgehoben sein. In der Menge demonstriere oder 'poste' ich meine Individualität und setze sie in Szene."

Doch sei der Marathon eben mehr als ein reines Spaß-Event. Es gehe auch darum, sich etwas zu beweisen: "Die meisten Teilnehmer sind bereits in fortgeschrittenem Alter. Sie haben vielleicht beruflich etwas erreicht und wollen dies durch körperliche Leistung bestätigen. Andere nutzen den Marathon als Kompensation. Denn nirgendwo sonst ist Leistung so objektivierbar wie im Sport. Ich kann sie in Zeiten, Weiten und Toren messen."

Wobei es den Marathoni offenbar immer weniger darum geht, eine bestimmte Endzeit zu erreichen. Wie bei vielen Massen-Events gilt das olympische Motto: Dabei sein ist alles. "Heute wagen sich viele Läufertypen auf die Strecke, die es früher vermutlich nicht getan hätten", sagt Hans Stollenwerk von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der die Entwicklung des Marathonlaufs seit drei Jahrzehnten verfolgt.

So seien etwa beim Frankfurt-Marathon 1984 nach dreieinhalb Stunden bereits rund drei Viertel aller Läufer im Ziel gewesen. Inzwischen hat sich das Verhältnis nahezu umgedreht. Der Trainingsaufwand, den die Teilnehmer durchschnittlich für das Ziel Marathon betreiben, hat sich im gleichen Zeitraum auf knapp 50 Kilometer pro Woche halbiert.

Soll ein solches Pensum dann am Stück gelaufen werden, ist der Körper schnell überfordert - der Marathon wird zur Qual. Und die ist für den Personalentwickler und Mentalcoach Olaf Kortmann eine Willensleistung. "Menschen quälen sich auch freiwillig, weil sie starke Lebensmotive haben, ein Ziel erreichen wollen, das mit einfachen Mitteln nicht zu erreichen ist", sagt der frühere Volleyball-Bundestrainer. "Sie haben eine bestimmte Motivstruktur, die es zu ergründen gilt, und wenn die Motive nicht ausreichen und kognitive Elemente helfen müssen, dann gibt es noch die Volition, den Willen."

Und der sei trainierbar. Qual sei ein archetypisches Verhaltensmuster, genetisch angelegt, das Menschen in bestimmten Situationen anwenden, wenn ihre Motive, um ein Ziel zu erreichen, nicht ausreichen. "Das ist nichts Krankhaftes, das ist eine gesunde Lebenseinstellung."

Der Hamburger Psychoanalytiker Andreas Fehrig, selbst ein begeisterter Sportler und Zuschauer, bietet aus der Perspektive des Seelenarztes eine andere Sichtweise an: "Wenn Qual mit im Spiel ist, ist im eigenen Lebensbereich schon etwas, im Sinne eines selbstschädigenden Verhaltens, schiefgelaufen." Allerdings habe dieses dysfunktionale Verhalten - zum Beispiel Übertreiben durch zu intensives Training - die Funktion, "irgendetwas, was unbewusst noch unerträglicher zu sein scheint, womit du glaubst, dich nicht auseinandersetzen zu können, zu überdecken. Das können, mit unerträglichen Affekten wie Angst, Schuld, Scham oder Ohnmacht einhergehende, unverarbeitete Erfahrungen aus der Kindheit sein, etwa der Anspruch der Eltern, immer der Beste sein zu müssen, oder dass es Zuwendungen nur über Leistungen gab."

Antonio Fusaro, 52, gehörte einmal zu den besten Ausdauersportlern der Welt. Die Spezialität des Hamburger Triathleten war der dreifache Ironman, 11,4 Kilometer Schwimmen, 540 Kilometer Radfahren und zum Abschluss drei Marathons. Zu seinen besten Zeiten brauchte Fusaro 35 Stunden für diese Distanz. Den Reiz der Pein erklärte er dem Hamburger Abendblatt einst in einem Interview folgendermaßen: "Wenn man durchs Ziel kommt, ist das eine unwahrscheinliche Euphorie, die hält Tage an. Als ich 1998 im schleswig-holsteinischen Lensahn Weltmeister wurde, stand mein Sieg quasi schon vor dem letzten Marathon fest. Diesen zu laufen war ein Wahnsinnsgefühl. In dem Moment vergisst man die ganze Quälerei."

Die Glücksgefühle seien aber auch eine Entschädigung für entgangene Anerkennung gewesen. Jahrelang hätten ihn seine Eltern als den verlorenen Sohn angesehen, "den 'nicht so Guten' im Vergleich zu meinem Bruder, der mir oft vorgehalten wurde. Vielleicht wollte ich meinen Eltern beweisen, was ich alles leisten kann." Indem er die Schmerzen im Wettkampf ertrug, habe er sich auch dafür bestrafen wollen für das, was er den Eltern und sich selbst angetan habe: "Andere kasteien sich, lassen sich züchtigen, ich habe mir gesagt: Ich laufe jetzt, bis mir die Fußnägel abfallen. Du musst diese Qualen ertragen, um mit dir ins Reine zu kommen."

Für Psychoanalytiker Fehrig ist Fusaros sportliche Leidensgeschichte exemplarisch. Da der eigene Körper, im Gegensatz zur Auseinandersetzung mit der Welt und anderen Menschen, bis zu einem gewissen Grad kontrolliert werden könne, biete er sich geradezu als Schauplatz unbewusster Inszenierungen an. Psychotherapie könne helfen, alte Muster deutlich zu machen und diese durch neue Beziehungserfahrungen, besonders mit dem Therapeuten, gewissermaßen "zu überschreiben und etwas Neues zu lernen, zum Beispiel dass man nicht ständig etwas machen oder gar leisten muss oder dass es kein Drama ist, Zweiter zu werden".

Spitzensport, sagt Fehrig, trage für ihn dennoch nicht von Hause aus neurotische Züge. Solange eine wirkliche innere Wahlfreiheit bleibe, sei dagegen nichts einzuwenden.

Das beste Beispiel dafür sei die Biathletin Magdalena Neuner. Sie hat ihre Karriere mit 25 Jahren aus eigenem Willen beendet, weil sie in ihrem Leben nunmehr andere Schwerpunkte setzen wollte.