Nach Chantals Tod gibt es Kritik an Arbeitsbedingungen bei freien Trägern. Pädagoge fordert: Betreuung zurück in die öffentliche Hand.

Wilhelmsburg. Die Organisation der Jugendhilfe in Hamburg ist nach dem Methadon-Tod der elfjährigen Chantal in Wilhelmsburg am Wochenende verstärkt in die Kritik geraten. Nach Informationen des NDR gab es schon vor Jahren mehrere Beschwerdebriefe von freien Jugendhilfe-Trägern und Pflegeeltern über das für Chantal zuständige Jugendamt Hamburg-Mitte. Die Beschwerden waren demnach an den damaligen Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU), seinen Justizsenator Till Steffen (GAL) und den jetzigen Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) gerichtet. Dabei sei es etwa um Verwaltungsfehler und überlastete Beamte gegangen. Hausbesuche würden unterbleiben oder seien nur nach mehrmonatiger Vorbereitung möglich, hieß es in den Schriftstücken. Viele Fälle würden allein nach Aktenlage entschieden und das Kindswohl dadurch gefährdet. Es handle sich um Vorgänge aus den Jahren 2005/2006, sagte der Sprecher der Senatskanzlei. Nun versuche man herauszufinden, "was an den Vorwürfen dran ist" und was damals unternommen worden sei.

+++ Jugendamt ignorierte Hinweis von Lehrerin +++

+++ Sozialbehörde soll seit 2006 von Beschwerden gewusst haben +++

Kritik gibt es auch an den freien Trägern der Jugendhilfe. Das Jugendamt hatte im Fall Chantal die Betreuung der Familie dem freien Träger Verbund Sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) übergeben. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) hatte Ende Januar erklärt: "Ob das bei der Auswahl der Pflegefamilien weiter mit freien Trägern geht, ist bei der Prüfung des Falls Chantal mit zu erwägen."

Einer, der seit vielen Jahren bei solchen Einrichtungen arbeitet, ist Holger Bohn (*). Ein Fall, der inzwischen drei Jahre zurückliegt, geht ihm nicht aus dem Sinn. Obwohl er inzwischen viele andere Kinder und Familien betreut hat, denkt er immer wieder an den fünfjährigen Dennis (*). Der Junge lebte in Wilhelmsburg wie Chantal und die bei ihrem Tod vollkommen abgemagerte und dehydrierte Lara-Mia. Dennis war ein Pflegekind und Holger Bohn sollte im Auftrag des Jugendamtes und des freien Trägers, für den er damals tätig war, darauf achten, dass der Junge vernünftig versorgt werde. Immer wieder habe er Alarm geschlagen, sagt er. Er wollte, dass das Kind, das damals bei seiner herzkranken Großmutter in einer nach Bohns Aussage vollkommen vermüllten Wohnung lebte, in amtliche Obhut genommen werde. Stattdessen passierte etwas völlig anderes: Holger Bohn wurde der Fall entzogen, eine andere Mitarbeiterin übernahm die Betreuung. Kein Einzelfall, sagt Bohn.

"Das System krankt daran, dass viel zu viele Fälle in die Hand wirtschaftlich denkender Unternehmen gegeben wurden", sagt der Sozialpädagoge. Es wäre im Sinne der betroffenen Kinder mehr als sinnvoll, diese Aufgabe wieder zurück in die Behörden zu holen." Kritisch äußerte sich im "Focus" auch die Professorin im Bereich Sozialwesen der Fachhochschule Koblenz, Kathinka Beckmann, über den Einsatz der vielen freien Träger in der Jugendhilfe.

Unter den rund 80 000 Jugendhilfeeinrichtungen in Deutschland gebe es einen "harten Wettbewerb". Um einen Auftrag nicht zu verlieren, könnte im Fall einer Gefährdung eines Pflegekindes vielleicht nicht gleich etwas unternommen werden, sagte Beckmann, die auch Mitglied im Sachverständigenrat der Deutschen Kinderhilfe ist.

Für Holger Bohn zeigt der Fall Dennis exemplarisch auf, wo die Fehler im System lägen. "Die Jugendbehörden legen die Verantwortung in die Hände zahlreicher freier Träger, die natürlich gezwungen sind, streng nach wirtschaftlichen Prinzipien zu arbeiten. Ein Controlling findet so gut wie gar nicht statt. Da die Mitarbeiter in den Behörden überlastet sind, verhallen Alarmsignale der Betreuer oft ungehört. Wenn sie denn überhaupt ausgesandt werden." Denn viele Träger, und damit die Betreuer, handelten nach der Devise: Stillhalten, Job machen, kassieren. Leider habe sich der Zustand in den zurückliegenden Jahren eher verschärft als entspannt, sagt Bohn. "Obwohl nach dem Fall Lara-Mia versprochen wurde, dass man sich der Probleme in der Betreuung von Pflegekindern und Problemfamilien annehmen wolle."

Dennis, so erinnert sich Bohn, habe im örtlichen Kindergarten eine Einzelbetreuung gehabt, weil er bereits extrem verhaltensauffällig war. Er, so Bohn, habe ihn zehn Stunden pro Woche betreuen sollen, weil die kranke Großmutter überfordert war. Die Zustände in der Wohnung seien katastrophal gewesen, sagt Bohn. Überall habe Müll gelegen, den die ältere Dame aber ignoriert habe. Er habe den Leiter seiner Trägereinrichtung immer wieder auf die aus seiner Sicht haarsträubenden Lebensunstände des Jungen hingewiesen - und auch vielfach versucht, die zuständige Beamtin im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) zum Handeln zu bewegen. Doch fast nie sei sie zu erreichen gewesen. Und wenn doch, dann seien seine Hilferufe nicht gehört worden. Letztlich kein Wunder, wenn man bedenke, dass ein Mitarbeiter im Jugendamt sich im Schnitt um 60 bis 80 Fälle zu kümmern habe.

Auch der Job des Betreuers, sagt Bohn, sei ein harter: "Man stößt ständig gegen Wände. Man weiß, welche Hilfe für die Kinder und Jugendlichen eigentlich nötig wäre. Aber man weiß auch, dass oft das Geld fehlt." Zudem werde man zum Stillhalten erzogen - unter anderem dadurch, dass fast nur noch mit befristeten Verträgen gearbeitet werde. Dies könne eine Erklärung dafür sein, dass es immer wieder zu Fällen kommt, in denen offensichtliches Elend hingenommen werde: "Man stumpft ab. Das ist unvermeidbar." Und noch einen harten Vorwurf erhebt er: "Die Träger, nicht alle, aber manche, verdienen am Elend der Kinder."

Bohn sagt, ein Paradigmenwechsel müsse her: "Die Betreuung von Pflegekindern muss wieder zurück in die öffentliche Hand." Das derzeitige System der Kinder- und Jugendhilfe sei gescheitert. "Der Träger, der die besten Kontakte ins Jugendamt hat, bekommt die Fälle - und damit das Geld." So entstehe eine Kultur des Schweigens und des Wegsehens. Fatal in einem Bereich, in dem jeder Fehler schreckliche Konsequenzen haben kann.

(*Namen geändert)