Streit um Dachstatik der Elbphilharmonie eskaliert und entscheidet über die Zukunft des Konzerthauses. Stadt prüft Folgen einer Kündigung

Hamburg. Der Zeuge Ole von Beust, 56, übernahm die politische Verantwortung, aber schuldig fühlt sich Hamburgs ehemaliger CDU-Bürgermeister (2001-2010) an der Kostensteigerung der Elbphilharmonie von 114 auf inzwischen 323 Millionen Euro nicht. Während der Parlamentarische Untersuchungsausschuss am Donnerstag bei der Befragung im Festsaal des Rathauses fünf Stunden lang versuchte, mit dem früheren Stadtoberhaupt die Vergangenheit aufzuarbeiten, arbeitet sein SPD-Nachfolger Olaf Scholz, 53, in den angrenzenden Zimmern intensiv an der Zukunft des Jahrhundertbauwerks.

Weil die Situation völlig verfahren ist, lässt Scholz nach Abendblatt-Informationen längst mehrere Handlungsoptionen prüfen. Ein Szenario sieht dabei auch die Kündigung des Vertrages mit Hochtief vor.

Wie geht es weiter? Die Baustelle steht seit Monaten weitgehend still. Die Stadt als Bauherr und Hochtief als Generalunternehmer stehen sich unversöhnlich gegenüber. Gutachter und Gerichte haben die Regie übernommen.

Erst am Freitag hat ein Gericht die Klage der Stadt auf Schadensersatz wegen Bauzeitverlängerung zugelassen. Es gibt Streit um die Sanierung der historischen Fassade und um Hunderte von Rissen in der 660 000 Euro teuren Wandverkleidung der 85 Meter langen Rolltreppe. Genauso ungelöst ist der Konflikt um die Ausführungsplanung der technischen Gebäudeausrüstung (kurz TGA, dazu gehören Elektrik, Licht, Heizung, Brandschutz). Aber alle Beteiligten wissen, dass die Zukunft der Elbphilharmonie an einzelnen Stahlstäben im gewaltigen Dach-Fachwerk des Großen Konzertsaals hängt.

Wie sicher ist die Statik? Der Ausgang dieses Konflikts entscheidet darüber, wer am Ende für den Großteil der Bauzeitverzögerung verantwortlich gemacht werden kann. "Hier wird der Krieg entschieden", sagt ein Insider. Mit anderen Worten: Beim Beharren auf der eigenen Position geht es wohl um einen dreistelligen Millionenbetrag.

Deshalb gilt als sicher, dass auch dieser Streit vor Gericht ausgefochten wird. Während sich Hochtief wegen Sicherheitsbedenken seit Oktober 2011 weigert, das Dach abzusenken, hat die Stadt von drei unterschiedlichen Prüfern den Nachweis, dass die Tragsicherheit gewährleistet ist. So schreibt Professor Peter Marti in seinem Bericht an die ReGe am 16. August 2011 als Antwort auf die Hochtief-Gutachten: "Der fundamentalen Kritik der beiden Gutachter, das der Genehmigungsstatik zugrunde liegende statische Modell sei grundsätzlich unzutreffend und ungenügend, wird widersprochen. Die Aufarbeitung der Einzelkritikpunkte zeigt, dass bei plangemäßer Ausführung kein Anlass zu Zweifeln an der Tragsicherheit der Saaldachkonstruktion besteht."

Richtungweisend ist der kommende Dienstag. Dann entscheidet die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) über die Sicherheitsbedenken von Hochtief. Bis zum 23. Januar sollte der Konzern begründen, welche Bedenken hinsichtlich der Statik nach wie vor bestehen. Möglichkeit eins: Die BSU teilt die Bedenken von Hochtief. Dann müssten weitere Berechnungen eingeholt werden. Wahrscheinlicher ist Möglichkeit zwei: Die BSU teilt die Bedenken nicht. Was dann? Wird Hochtief, wie bei den Rissen im Putzsystem der Rolltreppe, den Streit verkünden und ein selbstständiges Beweisverfahren anstrengen, um die Sache von einem neutralen Gutachter vor Gericht klären zu lassen? Das wäre der schlimmste anzunehmende Fall, er hätte eine weitere, mindestens einjährige Verzögerung zur Folge. Und solange das Bauwerk nicht von oben geschlossen ist, verzögern sich sämtliche hochkomplexe Innenausbauten. Schon seit Monaten lagert die sogenannte "weiße Haut", die einzigartige akustische Innenverkleidung des Konzertsaals, für viel Geld in Hamburg und wartet auf ihre Verarbeitung.

Seit Monaten wird auf höchster Ebene um eine Lösung gestritten. Bereits am 10. November kam es zu einem Gipfeltreffen zwischen Hochtief-Chef Frank Stieler und Olaf Scholz. Es wurde besprochen, als erstes das Problem der Dachstatik zu lösen. Daraus wurde nichts. Im Gegenteil: Die Fronten sind verhärteter als je zuvor.

Die Stadt hat den Druck weiter verstärkt. Am 16. Januar 2012 hat die ReGe Hochtief aufgefordert, "die gesamte TGA-Ausführungsplanung im vertraglich geschuldeten Zustand bis spätestens zum 28.2.2012 an uns zu übergeben". Sollte Hochtief der Aufforderung nicht fristgemäß nachkommen, "behalten wir uns vor, dass wir Ihnen die Erstellung der TGA-Ausführungsplanung insgesamt entziehen werden".

Längst wird im Rathaus geprüft, ob der Vertrag mit Hochtief gekündigt werden kann und welche Folgen das für die Stadt hätte. Zahlreiche Fragen stellen sich: Wie groß wäre der finanzielle Schaden für die Stadt? Muss die Bürgerschaft einer Kündigung zustimmen? Muss die Stadt nach einer Kündigung einen neuen Generalunternehmer suchen und dieses europaweit ausschreiben - oder kann sie selbst diese Rolle einnehmen und die Elbphilharmonie mit den Subunternehmern von Hochtief zu Ende bauen? Müssten für diesen Fall sämtliche Leistungen neu ausgeschrieben werden?

Der Fall einer Kündigung des Vertrages wird wahrscheinlicher, wenn es im Streit um die Dach-Statik zu keiner Einigung kommt. Dabei kennen beide Parteien die Lösung: Man könnte einzelne Stäbe des Fachwerks stabilisieren. "Dann macht das doch", sagt die ReGe. "Dann weist uns dazu an", sagt Hochtief. Das Kalkül des Konzerns: Wenn die Stadt eine Nachrüstung anweist, gibt sie faktisch zu, dass die Statik bisher nicht ausreichend gewesen ist. Was später vor Gericht Millionenforderungen wegen der zu verursachenden Bauzeitverlängerung zur Folge haben könnte.

Eine weitere Option in diesem Millionen-Poker: Die Einigung im März auf die Zahlung einer Summe X an Hochtief, womit dann sämtliche Nachforderungen sowie Streitigkeiten über Statik und Bauzeitverlängerungen abgegolten wären. Um danach das Bauwerk gemeinsam fertigzustellen. Das wäre, nach dem 209 Millionen Euro teuren Nachtrag 4 aus dem Dezember 2008, Nachtrag 5. Auch der bräuchte die Zustimmung der Bürgerschaft.

Auch bei Hochtief werden intern die Vor- und Nachteile einer Kündigung längst durchgespielt. Noch aber scheint es Konzern-Linie zu sein, das Bauwerk mit der Stadt zusammen zu einem guten Ende zu bringen. In einem Brief des Hochtief-Vorstandes an die zuständige Senatorin Barbara Kisseler (parteilos) vom 24. Januar 2012, der dem Abendblatt vorliegt, schreibt Rainer Eichholz: "Wir sind weiterhin sehr an einer pragmatischen und schnellen Einigung interessiert." Er stellt aber auch fest: "Aufgrund der Ereignisse der vergangenen Wochen drängt sich aber leider der Eindruck auf, dass Sie an einer solchen Lösung kein Interesse (mehr) haben. Falls dieser Eindruck täuscht, bitte ich Sie um eine positive Antwort und konkrete Verfahrensvorschläge." Die Antwort der Senatorin ist gerade in Arbeit.